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Tristan Leoni – Anarchisten in Uniform in der Ukraine?

Mittwoch 29. Mai 2024

„Es ist traurig, aber lehrreich, sich daran zu erinnern, dass die Arbeiterwelt sich, wie die anderen, während den letzten beiden Weltkriegen in ihrer Mehrheit auf beiden Seiten hinter die Flagge ihrer eigenen Ausbeuter gestellt hat, trotz des heroischen Kampfes einer Handvoll revolutionärer Arbeiter und Intellektueller.“

Ngo Van

„Anarchistische Brigaden“, „libertäre Milizen“, „antiautoritäre Regimente“, „linksradikale Kämpfer“, „Antifas“, „Libertäre“ usw., die Wortwahl ist ziemlich wirr und reflektiert die schwierige Einordnung des Phänomens. Trotzdem haben die meisten grossen westlichen Medien diesem anscheinend exotischen Aspekt des Krieges in der Ukraine einige Zeilen oder Minuten gewidmet: Die Präsenz von anarchistischen und linksradikalen Aktivisten in den Reihen jener, welche gegen die russische Armee kämpfen. Das ist eher ungewöhnlich!

Seit dem Frühling 2022 wurde der Diskurs dieser Kämpfer im Westen innerhalb der anarchistischen, libertären, Antifa-, Hausbesetzer- und sogar autonomen Milieus aufgegriffen; ganz und gar nicht orientierungslos richten sich diese Ukrainer an „uns“, sie präsentieren ihre Handlungen als vorbildliches politisches Modell und bitten uns um finanzielle Unterstützung; es ist also durchaus von Interesse und angebracht, sich mit dem, was sie uns sagen, aber auch mit ihren meist nur knapp und in vagen und verwirrenden Worten beschriebenen Praktiken zu befassen, auch auf kritische Art und Weise. Auf diese Weise kann ein Bild des zeitgenössischen europäischen revolutionären Aktivismus, seiner Einflüsse und seiner Grenzen skizziert werden [1].

Was tun in Anbetracht des Krieges?

„Zunächst einmal, sich nicht von der Unmittelbarkeit der Ereignisse, von der Propaganda, von allzu bequemen Vereinfachungen, mitreißen zu lassen. Es gibt Zeiten, da hat man keinerlei Einfluß auf den Lauf der Dinge. Es ist besser, sich dessen bewußt zu sein und nicht die eigene Ohnmacht hinter wildem Herumgefuchtel zu verbergen oder, schlimmer noch, auf einen Zug zu springen, der nicht der unsere ist.“

Louis Mercier-Vega

Innerhalb der anarchistischen Bewegung in der Ukraine gehen die Diskussionen über den Krieg mindestens bis auf 2014 zurück; damals, als die Kämpfe beginnen, schliessen sich gewisse Aktivisten freiwillig militärischen Formationen im Donbass an. In den Tagen vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022, als diese unmittelbar bevorzustehen scheint, versammeln sich die Anarchisten, Libertären und ihnen nahestehende Aktivisten in der Region von Kiew (mehrere Dutzend Leute), um über die Situation zu sprechen und ihre Vorgehensweise zu entscheiden. Die seit Jahren wiederkehrende Debatte wird plötzlich auf neue Art und Weise zentral: Soll man sich den russischen Truppen bewaffnet entgegenstellen, wenn sie die Grenze überqueren, oder aber allen Widrigkeiten zum Trotz antimilitaristische, antistaatliche, revolutionäre und internationalistische Positionen beibehalten [2]. Obwohl eine – wohl sehr grosse – Mehrheit die erste der beiden Positionen verteidigt, wird sie trotzdem nicht von der Gesamtheit der anarchistischen Bewegung in der Ukraine geteilt (einige entscheiden sich z.B. für humanitäre Aktionen zur Unterstützung der Flüchtlinge oder Verletzten, wir werden darauf zurückkommen); diese Tendenz ist hingegen zur sichtbarsten, am stärksten mediatisierten und, während etlicher langer Monate, zu fast der einzigen geworden, deren Diskurs in Europa in den aktivistischen Medien aufgegriffen wird.

Jene, welche sich für den bewaffneten Kampf entschieden haben, präsentieren ihn häufig in erster Linie als Notlösung, eine Notwendigkeit, um einen demokratischen Rahmen zu erhalten, der für den künftigen Aktivismus als günstiger wahrgenommen wird – die sehr autoritäre Demokratie Kiews, statt die sehr, sehr autoritäre Demokratie Moskaus –; die Präsenz in der Ukraine etlicher russischer und weissrussischer Aktivisten, die der Repression in Russland entkommen mussten, begünstigt wahrscheinlich diese Einschätzung. Es handelt sich jedoch nicht um eine einfache Frage der individuellen Sicherheit, denn es ist viel riskanter, in den Kampf zu ziehen, als, zum Beispiel, ins Ausland zu fliehen; die vorherrschende ideologische Positionierung ist in Tat und Wahrheit eine antifaschistische [3]. Doch die Aktivisten betonen auch häufig die Tatsache, dass die Teilnahme an der Landesverteidigung eine Gelegenheit sei, um antiautoritäre Ideen in der Bevölkerung und besonders unter den Soldaten zu verbreiten, womit man einen Einfluss auf die laufenden Ereignisse und die künftige politische Bühne der Ukraine habe; das häufig bereitwillig eingestandene Modell ist jenes der rechtsextremen Gruppen, die aufgrund ihrer Teilnahme am Krieg im Donbass an Prestige und Einfluss innerhalb der Gesellschaft gewonnen haben (ist dies allerdings die einzige Erklärung für ihren Erfolg?) [4].

Wie muss man also konkret zu Werke gehen, um aufzubrechen und sich den russischen Truppen entgegenzustellen? Es gibt in Wirklichkeit nur eine Möglichkeit: sich der Armee anschliessen. Ein Aktivist erinnert sich: „Könnten wir uns der Invasion bewaffnet unabhängig von der staatlichen Armee unter den gegenwärtigen Bedingungen entgegenstellen? Die Antwort ist definitiv nein […] Zuerst einmal gibt es auf unserer Seite im Moment nicht genügend Struktur oder Ressourcen, um ernsthaft den Anspruch zu haben, eine unabhängige bewaffnete Kraft zu bilden. Gleichzeitig hat der ukrainische Staat genug Macht und den Willen, jegliche vollständig autonome Kraft zu unterbinden. In dieser Situation ist Guerillakampf unabhängig vom Staat nur in den von der russischen Armee besetzten Gebieten möglich.“ [5]

Die schon seit einigen Jahren von einigen Aktivisten empfohlene Lösung ist also einfach: das Engagement innerhalb der Einheiten der Territorialverteidigung (TV), die von Berufsmilitärs umrahmte Einheiten bündelt, die jedoch aus freiwilligen Reservisten (mit einer regionalen Rekrutierung) und gegebenenfalls aus mobilisierten Bürgern besteht. Es handelt sich keinesfalls um „bewaffnete Zivilisten“, wie es einige behauptet haben, sondern um Reserveeinheiten wie man sie in allen Armeen der Welt findet, sogenannte Einheiten zweiten Ranges, die untergeordnete Aufgaben erledigen und somit die kämpfenden Einheiten an der Front unterstützen, letztere bestehen allen voran aus Berufssoldaten (was sich im Verlauf des Konflikts ändern wird).

Für jene Aktivisten, welche sich freiwillig melden, muss der Antimilitarismus und die Staatskritik also auf Eis gelegt werden, solange der Konflikt andauert; das ist das Prinzip des Burgfriedens, alle haben während einer gewissen Zeit gemeinsame Ziele. Somit ist man zu semantischen Verdrehungen verdammt, man spielt also mit den Worten, um sich selbst davon zu überzeugen, dass man weder den Staat noch die Interessen der nationalen Bourgeoisie verteidigt, sondern nur „das Volk“, diese etwas vage, aber klar klassenübergreifende Einheit: „[D]ie Interessen der ukrainischen Gesellschaft und des ukrainischen Staates sind gegenwärtig in einem Punkt deckungsgleich, der Zurückschlagung der brutalen Invasion, obwohl sie sich in etlichen anderen Punkten voneinander unterscheiden. Deswegen scheint jeglicher Versuch, getrennt Widerstand zu organisieren, im Moment im Volk Unverständnis auszulösen. Doch wir können feststellen, dass die gegenwärtige Situation in den bewaffneten Streitkräften der Ukraine immer noch viel Raum lässt für politische Gruppen, welche die Besatzer bekämpfen wollen.“ [6]

Der letzte Satz bezieht sich offensichtlich auf die verschiedenen rechtsextremen Bewegungen, die über identifizierbare spezifische Einheiten verfügen, sie sind anerkannt, respektiert und vollständig in das Organigramm der bewaffneten Streitkräfte der Ukraine integriert; die berühmteste von ihnen ist die Brigade Asow. Gewisse Anarchisten hoffen also, dass sie auch legal eine Einheit dieser Art aufbauen, über eine gewisse Autonomie verfügen und ein Minimum an Propagandaarbeit innerhalb der Armee betreiben können; doch dafür muss man sich organisieren.

Widerstand?

Im Februar 2022 rufen diese Aktivisten eine Struktur ins Leben, die zum Ziel hat, die verschiedenen Initiativen, die versuchen, sich der russischen Invasion entgegenzustellen, zu koordinieren und logistisch zu unterstützen: das Widerstandskomitee, das manchmal als Schwarzes Hauptquartier bezeichnet wird. Die daran beteiligten Gruppen präsentieren sich als anarchistisch, wie z.B. RevDia oder Black Flag Ukraine, doch man findet darin auch kleine linksradikale oder antifaschistische Gruppen oder Individuen, z.B. die antifaschistischen Fussballfans des Ex-Klubs Arsenal Kiew – der Hoods Hoods Klan – die Strassenkämpfe gewöhnt sind [7]; einige schliessen sich dem Komitee an, aber behalten eine gewisse Autonomie (z.B. betreffend der Mittelbeschaffung), das gilt für eine Gruppe von Öko-Anarchisten aus Lwiw, Ecological Platform [8].

Das Widerstandskomitee versieht sich im Mai 2022 mit einem „Manifest“, das eine Vorstellung davon gibt, was die Aktivisten zusammenbringt [9]. Was zuerst überraschen mag, ist die Tatsache, dass der Krieg überhaupt nicht in einen grösseren Zusammenhang gestellt wird, sei es nur jener der wirtschaftlichen und geostrategischen Rivalitäten oder jener der Krise des Kapitalismus. Die ganze Sache beschränkt sich also vermeintlich auf Russland und die Ukraine, aber jenseits des banalen Streits um Territorium sei eine ganz andere Dimension zentral: jene der offensichtlichen Konfrontation zwischen Freiheit und Autorität – zwischen dem Guten und dem Bösen, ist man versucht, zu verstehen. Die Ukraine wird darin übrigens als ein Land dargestellt, wo seit Jahrhunderten die dem Despotismus ausgesetzten „Freigeister“ zusammenströmen, die Opryschky-Aufständischen [10] oder die Makhnowisten. Der Imperialismus Putins, der Putinismus oder auch die imperiale russische Herrschaft werden als einzige Verantwortliche für den Krieg wahrgenommen, es geht also nun darum, die Völker von jeglichem Autoritarismus zu befreien – ein Kampf, der in der Ukraine von einer Massenbewegung des Volkes angeführt werden wird:
„Wir glauben, dass die Ukraine und ganz Osteuropa frei von Diktatur sein sollten. Freiheit, Solidarität und Gleichheit sollten die Hauptprinzipien der sozialen Organisation in der Region werden […] Wir streben danach, die Zukunft der Ukraine und der gesamten Region zu beeinflussen, die bereits bestehenden Freiheiten zu schützen und zu ihrer Erweiterung beizutragen.“

Dafür geht es darum, „die Bemühungen der Kämpfer gegen den Autoritarismus zu vereinen, um einen wirksamen Kampf für unsere Ideale und Werte zu führen“.

Die gleichen Autoren legen Wert darauf, zu präzisieren, dass sie „das Ungleichgewicht von Macht und Reichtum in der Gesellschaft“ verurteilen und „die Gleichstellung der Geschlechter, den Schutz der Umwelt und die Überwindung jeglicher Art von Diskriminierung“ befürworten: „[W]ir sind gegen alle Formen der Unterdrückung unter den Menschen, gegen das Verhältnis von Herrschaft und Unterwerfung, gegen soziale Ungleichheit. Alle Unterdrücker müssen besiegt werden. An die Stelle der Tyrannei soll die freie und gleichberechtigte Zusammenarbeit aller in der Gesellschaft treten.“

Jenseits seines diskursiven Aspekts gibt sich das „Manifest“ pragmatisch und skizziert einige Vorschläge für Reformen, die für die künftige ukrainische Gesellschaft notwendig sind: Annullierung der Auslandsschulden der Ukraine, Annullierung der Kredite der Ukrainer mit geringem oder durchschnittlichem Einkommen, Einführung eines Systems selbstverwalteter Versammlungen auf lokaler und Berufsebene, vereinfachter Zugang zu Wohnraum und Wohneigentum, Unentgeltlichkeit der Gesundheitsdienste und des öffentlichen Verkehrs, Gewährung von Sozialhilfe für Personen mit geringem Einkommen, Schaffung von autonomen Frauenstrukturen in allen Gemeindeorganen des Landes, Schaffung von Frauenverteidigungskräften (gegen die Gewalt an Frauen), Sensibilisierung für den Umweltschutz (zum Beispiel, indem die Entwicklung erneuerbarer Energien vorangetrieben wird) usw.

Eine Reihe von Vorschlägen betrifft spezifisch Fragen der Verteidigung: Ausweitung der lokalen Selbstverteidigung, Recht auf Zugang zu Waffen und Waffenbesitz, Gewährung der ukrainischen Staatsbürgerschaft für die freiwilligen ausländischen Kämpfer, Schaffung von Fraueneinheiten innerhalb der regulären Armee, Annäherung des Bildungssystems und der Militärindustrie betreffend Spitzentechnologien und der Ausbildung von Spezialisten, Möglichkeit der militärischen Ausbildung in den Reihen der TV, Reduzierung der Bürokratie oder auch die Einführung spezifischer Mahlzeiten für die veganen Soldaten.

Wie immer in solchen Texten geben sich die Autoren, da sie die ins Auge springenden Widersprüche nicht kaschieren können, gefährlicher argumentativer Akrobatik hin; bezüglich des Verhältnisses zum Staat und der Regierung im Amt wird z.B. präzisiert, dass, „[w]enn sich der ukrainische Staat heute an diesem Kampf beteiligt, […] das nicht [bedeutet], dass wir seine Unterstützer geworden sind“… Der Staat und die Anarchisten seien am Widerstand beteiligt, jeder auf seiner Ebene und abhängig von seinen Mitteln und de facto verteidigten die antiautoritären nicht den Staat, das Land oder die Nation, sondern nur „das Volk“… Im Juli 2022 veröffentlicht die gleiche Gruppe, die sich nun Solidarity Collectives nennt, einen neuen Text, der kürzer, pragmatischer und weniger politisch ist [11].

„Auf der Grundlage unserer antiautoritären Werte haben wir uns entschieden, aktiv gegen die russische Aggression Widerstand zu leisten. Wir unterstützen das Recht des ukrainischen Volkes auf Selbstverteidigung und betrachten die russische Invasion als imperialistischen Akt. Trotz der Multidimensionalität jedes globalen Ereignisses sind die Hauptgründe dieses Krieges die imperiale Politik der Russischen Föderation, der Glaube der russischen Eliten an ihre historische Mission und ein Versuch, Kontrolle über das zu erlangen, was sie als ihre Einflusssphäre betrachten. Die Gründe sollten weder in den wirtschaftlichen Interessen der russischen Oligarchie noch in den ‚russischen Sicherheitsbedenken‘ und besonders nicht in den Machenschaften der NATO gesucht werden.“

„Unser Ziel ist eine freie und gerechte Gesellschaft, unsere zentralen Werte sind gesellschaftliche, wirtschaftliche und Geschlechtergleichheit.“

„[D]er […] Wiederaufbau [des Landes] sollte dem Volk zugutekommen. Er sollte nicht auf neoliberale Dogmen gegründet werden [...]“

„Wir unterstützen antiautoritäre und antikoloniale Bewegungen weltweit. Heute sammeln antiautoritäre Aktivisten in der Ukraine Erfahrungen, die nützlich sein könnten, um Diktatoren und autoritäre Regimes sowohl in postsowjetischen Ländern als auch in anderen Regionen (Iran zum Beispiel [12]) zu stürzen.“

Man sieht es, diese zentralen Texte, welche die „autoritären Tendenzen unserer Gesellschaft“ anprangern und die Verteidigung der Tiere und den Kampf gegen den Klimawandel betonen, scheren sich nicht um irgendwelche Mantras einer klassischen anarchistischen Prosa gegen den Kapitalismus, die Armee oder den Staat (noch weniger gegen die Demokratie); es herrscht darin eine sehr pragmatische Sichtweise des gesellschaftlichen Wandels vor, die man als sozialdemokratisch bezeichnen könnte, geschmückt mit politischen Themen, die gerade in Mode sind. Das Heraufbeschwören „antiautoritärer Werte“ ist vage genug, um heutzutage etlichen Aktivisten und Sympathisanten der äusseren Linken, der Bewegung gegen die Globalisierung oder für den Umweltschutz zu gefallen. In Wirklichkeit zeigen die Positionierungen der Gruppe, die Texte und die Zeugenberichte oder auch das Profil der Kämpfer, jenseits der anscheinenden ideologischen Verschwommenheit, dass, wenn es darin eine politische Kohärenz gibt, es nicht jene des Anarchismus ist, sondern eher, banaler, jene des Antifaschismus, dieses Willens, sich an einer klassen- und parteiübergreifenden Front zur Verteidigung der ukrainischen Demokratie gegen die autoritäre russische Gefahr [13] zu beteiligen – ein Burgfrieden, der jeglichen anderen Kampf auf eine unbestimmte Zeit (den Frieden) verschiebt – während die Regierung ihrerseits vom Konflikt profitiert, um die Gewerkschaften anzugreifen und den Sozialabbau zu beschleunigen [14]. Der Krieg wird nur als ideologische und moralische Konfrontation wahrgenommen, die Tatsache, dass die Ukraine ein Kampffeld um wichtige wirtschaftliche Streitgegenstände zwischen Russland, der Europäischen Union und den USA ist, oder auch, dass die russischen und ukrainischen Proletarier nicht die gleichen Interessen haben wie ihre jeweiligen Bourgeoisien, scheint für die Autoren schlichtweg undenkbar; es ist wahr, dass es sich manchmal als störend erweisen kann, etwas Abstand zu gewinnen.

Die „libertäre“ Beteiligung am Widerstand entwickelt sich sehr schnell in Richtung zweier Strukturen – eine militärisch, die andere zivil – letztere kümmert sich um die logistische und mediale Unterstützung ersterer. Von nun an steht, jenseits der ursprünglichen politischen Entscheidung, das Leben der Aktivisten an der Front auf dem Spiel, es muss also alles ihrer Unterstützung untergeordnet werden.

Eine zivile materielle Unterstützung

Wie häufig in Kriegen sind die Soldaten nicht genügend ausgerüstet und müssen gewisse benötigte oder angenehme Dinge selber kaufen, in der Regel ist das sehr teuer. Trotz der ausgeschütteten Milliarden von Dollars und Euros vom Westen befindet sich der ukrainische Soldat in dieser Situation – tatsächlich ist das Land eines der korruptesten der Welt. Die zivilen Aktivisten haben sich die Ausrüstung der Soldaten zur Aufgabe gemacht, erstere bevorzugen es, hinter der Front zu arbeiten. Das erweist sich als sehr kostspielig und die Finanzierung beruht einzig auf den Spenden der westlichen Sympathisanten, daher schenkt man der Propaganda viel Aufmerksamkeit: Die Entwicklung einer passenden politischen Erzählung ist unerlässlich, denn die alleinige Beschreibung der militärischen Praktiken auf dem Terrain wäre dem Risiko ausgesetzt, zur Zeichnung eines „antiautoritären“ Bildes der Kämpfer mangelhaft zu sein, sie würden somit jegliche Besonderheit verlieren.

Einige Aktivisten gründen also in Kiew im Februar 2022 eine Ad-Hoc-Struktur, Operation Solidarity, deren Hauptziel es ist, die Bedürfnisse (bezüglich Ausrüstung) der „Kämpfer (in erster Linie die antiautoritären und linken Aktivisten)“ zu erfassen, die Einkäufe in der Ukraine oder im Ausland zu tätigen und dann die Lieferung zu organisieren [15]. Es kann sich um Kleidung, leichte Ausrüstung, medizinisches Material, Nachtsichtgeräte, zivile Drohnen oder manchmal gar Fahrzeuge handeln: alle Art von Ausrüstung ausser Waffen [16]. Um sich ein Bild davon zu machen, zwischen Februar 2022 und September 2022 seien den Kämpfern „5 Fahrzeuge, 20 Helme, 30 schusssichere Westen, 50 Erste-Hilfe-Sets, 5 Drohnen, 30 Walkie-Talkies, mehr als 100 Kleidungsstücke, optische Visiere, Ausrüstungsgegenstände, militärische Lärmschutzhelme“ geliefert worden, ohne die angemessene Nahrung für vegane Soldaten zu vergessen [17]. In einem auf Telegram veröffentlichten Aktivitätsbericht für die Monate Mai und Juni 2023 verkündet die Gruppe, dass sie 2 Mavic-Drohnen, 1 Paar Nachtsichtbrillen (vielbegehrt, aber sehr teuer), Visiere, 1 Schalldämpfer, 3 Tablets, 4 Generatoren, 1 GPS-Uhr, 8 zivile Motorola-Funkgeräte, 2 digitale Baofengs-Walkie-Talkies, 13 externe Batterien, Speicherkarten, 1 Laptop für einen Drohnenoperator, 1 Helm und sein Zubehör, 1 Splitterschutzanzug, Taschen, Sitzteppiche, 2 ballistische Schutzwesten und 6 Plattenträger (eine Art schusssichere Westen), 2 Schutzplatten, 3 taktische Kopfhörer, 2 Feldstecher, 2 Monokulare für Gewehre, 18 Gasflaschen, 51 CAT-Stauschläuche, 16 Brustkorb-Pflaster, 10 IFAK-Erste-Hilfe-Sets, 42 Israelische Verbände, 11 blutstillende Verbände, 100 Thermodecken usw. geliefert hat.

Es ist festzuhalten, dass das Kollektiv auch geflüchteten/deplatzierten Personen oder Opfern von Bombenangriffen hilft (mit Ausrüstung, medizinischem Material, Nahrung usw.) und gelegentlich Ausrüstung an gewisse Spitäler, Schulen oder Tierasyle spendet. Etwas weniger als ein Drittel der gesammelten Summen des Kollektivs werden dafür eingesetzt – schwierig, zu sagen, ob dieser Prozentsatz sich mit der Zeit geändert hat [18].

Der Finanzbedarf ist also beträchtlich, daher die ständigen Spendenaufrufe an Aktivisten und Sympathisanten der westlichen Länder; die prinzipielle Zwischenstation in Westeuropa scheint die Gruppe ABC Dresden zu sein [19]; die sehr vage Botschaft findet in Frankreich in den anarchistischen und linksradikalen Milieus ein Echo, auch in der NPA und bis hin zu den Autonomen. Mitglieder der ukrainischen Gruppe touren manchmal durch Europa, um ihre Aktion zu präsentieren; sie waren zum Beispiel präsent im Juli 2023 am Internationalen Antiautoritären Treffen (sic!) in Saint-Imier. Die Kommunikation, besonders auf den sozialen Medien, ist in diesem Dispositiv zentral und die Soldaten an der Front verfügen sogar über ein Medienkomitee, um die Kontrolle über die produzierten Videos und Texte zu garantieren [20].

Die Situation mag in Anbetracht der an die Ukraine gespendeten Milliarden von Dollars und Euros von den Ländern der NATO paradox erscheinen, aber in fast allen Kriegen entstehen solche Initiativen und es gibt in Kiew und auf der ganzen Welt etliche Nichtregierungsorganisationen und karitative Stiftungen, welche die ukrainischen Kämpfer unterstützen und ihnen diese Art von Material liefern; die mächtigste davon ist Come Back Alive. Etliche Einheiten der Armee, und besonders jene, welche sich aufgrund von – in der Regel rechtsextremer – politischer Affinität zusammengeschlossen haben, nehmen solche Spendenaktionen in Anspruch, um die Ausrüstung und den Komfort ihrer Kämpfer zu verbessern (zum Beispiel Support Azov), daher kommt die Notwendigkeit einer angepassten Kommunikation. Die sozialen Netzwerke werden massiv benutzt und während die Strukturen ihren Ideenreichtum unter Beweis stellen müssen, um die Spender zu gewinnen [21], müssen die Soldaten ihrerseits als so cool und kühn wie möglich erscheinen – zumindest auf TikTok [22].

Das zivile Unterstützungskomitee für die antiautoritären Kämpfer ist jedoch nach einigen Monaten mit Schwierigkeiten konfrontiert. Die Aktivität von Operation Solidarity muss sogar im Juli 2022 aufgrund der „Müdigkeit“ der Mitglieder der Gruppe unterbrochen werden, aber auch wegen internen Unstimmigkeiten, wovon einige ganz banal mit Macht- und Geldfragen zusammenhängen [23]… Die Gruppe legt sehr schnell mit einigen Individuen weniger, einem neuen Namen, Solidarity Collectives, und wahrscheinlich auch mit einer neuen administrativen Struktur wieder los.

Die Gruppe versieht sich mit einem neuen Präsentationstext und kündigt nun an, sie unterstütze „anarchistische“ Kämpfer, „Verteidiger der Menschenrechte, Gewerkschafter, Öko-Anarchisten, Anarchafeministinnen, Punkrocker, politische Flüchtlinge aus Weissrussland und Russland“ [24]… Das Zielpublikum tendiert mit der Zeit dazu, ausgeweitet zu werden, um über jenes der alleinigen anarchistischen Aktivisten hinauszugehen, was nicht erstaunlich ist. Die sehr klassische Organisationslogik drängt die Aktivisten sowieso schon dazu, ihre Aktivität und die Summe der gesammelten Spenden stets aufrechtzuerhalten oder zu steigern – wie gross auch immer die Anzahl der uniformierten Anarchisten entlang der Front sein mag; und diesbezüglich deutet eben genau nichts darauf hin, dass die Anzahl der kämpfenden Aktivisten sich im Verlauf der Monate vergrössert, im Gegenteil: Mindestens etwa 15 von ihnen wurden im Gefecht getötet – sie werden häufig von der Aktivistenpropaganda als „Märtyrer“ dargestellt, ein typisches Vokabular aus dem Nahen Osten, das von Ehemaligen aus Rojava importiert worden ist – und man weiss nichts über die Verletzten und jene, welche aufgegeben haben. Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, dass der geringe Zustrom von (ukrainischen oder westlichen) Freiwilligen nach der russischen Invasion mit der Zeit abgenommen hat: Zuerst einmal, weil die ukrainische Armee mittlerweile vollständig gemäss den Standards der NATO strukturiert ist und der Improvisation immer weniger Platz lässt, aber vor allem, weil die Kämpfe immer grausamer und tödlicher werden.

Es gibt allerdings eine rote Linie, die das Kollektiv nicht bereit ist, zu überschreiten, jene der Unterstützung für antiautoritäre Aktivisten, die in wenig politisch korrekten Einheiten kämpfen: Es zirkulieren viele Informationen auf den sozialen Netzwerken über Aktivisten, die aus Gründen der Effizienz in den rechtsextremen Einheiten kämpfen (es handelt sich in der Regel um Eliteeinheiten, die vom Führungsstab regelmässig herangezogen werden und sehr gut ausgestattet und trainiert sind); Solidarity Collectives gesteht ein, dass mindestens einem Anarchisten, der in der Brigade Asow kämpft, die Unterstützung verweigert wurde, aber dass mindestens vier andere, die Teil des (aus weissrussischen Freiwilligen in der ukrainischen Armee bestehenden) nationalistischen Kastus-Kalinouski-Regiments unterstützt worden sind, obwohl diese Entscheidung unter den Mitgliedern des Kollektivs umstritten war [25]. Obwohl das Tragen der Uniform nicht zwingend bedeutet, dass man kämpft, denn man kann zum Beispiel in einer medizinischen Einheit aktiv sein – sei es in der Nähe der Kämpfe oder weiter hinten –, in dem Medien am prominentesten vertreten sind natürlich jene „antiautoritären“ Freiwilligen, die mit den Waffen hantieren.

Anarchistische Soldaten?

„Ich hasse alle Offiziere […] Können sie sich vorstellen, wie sehr ich diese Uniform und alles, was sie repräsentiert, hasse?“

Sam Peckinpah, Steiner – Das Eiserne Kreuz, 1977

Die Aktivisten, die für ein Engagement bei der Armee unterschrieben haben, sind meistens im ganzen Land zerstreut; entweder, für die erfahrensten unter ihnen, in den klassischen Brigaden; oder, für die anderen, in der TV. Es soll daran erinnert werden, dass letztere leichte, lokal rekrutierte, aus freiwilligen Reservisten bestehende Infanterieeinheiten zusammenbringt und von Berufssoldaten umrahmt ist. Man sollte sie nicht unterschätzen, obwohl sie für anscheinend untergeordnete, undankbare und kaum prestigeträchtige Aufgaben verantwortlich sind, sind diese strikt militärisch betrachtet sehr nützlich. Als im Januar 2023 ein begeisterter französischer Journalist bezüglich des Konflikts die „Fülle an kleinen, mehrheitlich anarchistischen bewaffneten Gruppen“ anspricht, ist ein Mitglied des Widerstandskomitees gezwungen, seinen Enthusiasmus zu dämpfen: „Man kann eher von kleinen, in die Verteidigungskräften integrierten Gruppen anarchistischer Genossen sprechen [26].“ Obwohl diese Eingliederung manchmal kleine Gruppen betrifft, ist sie in Wirklichkeit in den meisten Fällen individuell [27].

Das einzige wirkliche Gegenbeispiel, rund um welches im Westen viel phantasiert werden wird, ist jene Gruppe, welche den Namen antiautoritärer Zug annehmen wird [28]. Phantasien, die bezüglich der materiellen Realität dieser Gruppe auf sehr vagen Vorstellungen beruhen und etliche Interviewer und Journalisten nicht zu zerstreuen versuchen: Man könnte sich allerdings legitimerweise die Frage stellen, was seine Mitgliederzahl ist. Von welcher Einheit ist er Teil? Auf welche Art und Weise? Was ist seine administrative Realität? An welchen Schlachten war er beteiligt? Was sind seine alltäglichen Aktivitäten? Über welche Waffen verfügt er? Man muss die Gesamtheit der verfügbaren Texte miteinander vergleichen, um zu versuchen, darauf eine Antwort zu finden.

Der Zug entsteht scheinbar aus der Initiative eines Antifa-Aktivisten, der sich 2014 freiwillig gemeldet hat und im Verlauf der Jahre Offizier und später Hauptmann in einer der Brigaden der TV des Oblasts von Kiew geworden ist (er stirbt im Gefecht im September 2022 [29]) und an den Treffen der Anarchisten vor und nach der russischen Invasion teilnahm. Es ist wahrscheinlich ihm zu verdanken, dass die anarchistischen und antifaschistischen Freiwilligen aus der Region Kiew in einem gleichen Zug zusammengeschlossen sind. Erpicht auf Aktion und Autonomie tauchen sie in einen militärischen Rahmen ein, der naturgemäss aus administrativer Schwerfälligkeit und strenger Hierarchie besteht. Die Einheit ist zum Beispiel nicht frei, was die Rekrutierung anbelangt, und muss manchmal ankündigen, dass keine Plätze mehr frei sind (Nachricht auf Telegram im April 2022 im Kanal RevDia) – das ist umso komplizierter für die ausländischen Freiwilligen, als sie sich theoretisch Ah-Hoc-Einheiten anschliessen sollten (besonders der Internationalen Legion). Sie ist auch bezüglich der Ausbildung nicht frei und natürlich auch nicht bezüglich der Auswahl ihrer Missionen. In einem Interview, das vom Medienkomitee des Zuges grünes Licht bekommen hat, bringt ein Anarchist einige Ideen zur Umgehung dieser Bürokratie vor: „Die Lehre dieser Geschichte ist, dass, je mehr Kontakte und Verbindungen man in den betreffenden Institutionen hat, desto grösser werden die Chancen sein, die Bürokratie zu überwinden oder zu umgehen. Im Verlauf dieser letzten Monate bin ich zum Schluss gekommen, dass wir als Revolutionäre nicht zögern sollten, Kontakte innerhalb der staatlichen Institutionen zu knüpfen. Solange wir in Bezug auf unsere politischen Ziele klar sind, ist es eher gerechtfertigt, Risiken einzugehen, um diese Ziele zu erreichen, als darauf zu verzichten, jene Werkzeuge zu benutzen, welche der Bewegung helfen könnten, an Terrain zu gewinnen.“ [30] Die Beschreibung dieses Zuges als über eine „gewisse Autonomie“ verfügend, wie es gewisse französische Autoren getan haben, ist also im besten Falle Science Fiction.

Wie viele sind es?

Das Online-Portal Mediapart spricht im Juni 2022 von 100 bis 150 Anarchisten und Antifaschisten, die in verschiedenen Einheiten der Armee zerstreut sind; Zahlen, die Leute miteinschliessen, die nicht kämpfen und als medizinisches Personal dienen [31]. Die meisten davon sind ukrainische Aktivisten, denen sich einige Russen und Weissrussen, aber auch eine geringe Anzahl Westeuropäer angeschlossen haben, wovon einige in den kurdischen Kräften der YPG während des Bürgerkrieges in Syrien gedient haben.

Aber wie sieht es spezifischer mit dem in den Medien sehr präsenten antiautoritären Zug aus? Obwohl er oft erwähnt wird, bleiben die Aktivisten und die Sprecher sehr vage bezüglich seiner Zusammensetzung und seiner Mitgliederzahl… Halten wir zuerst einmal fest, dass, während die meisten Kommentatoren ihn unterschiedslos als Brigade, Bataillon usw. bezeichnen, mit einer reflexartigen Reaktion auf die Worte Brigaden und Milizen (die nach Spanien 1936 tönen), häufig im Plural und als ob es Synonyme wären, die mit der Kommunikation beauftragten Personen innerhalb dieser Gruppe das Wort Zug benutzen. Aber diese Bezeichnung ist nicht unbedeutend und sie haben allen Grund, das zu wissen; ein Zug (platoon auf Englisch) beschreibt in den westlichen Armeen eine sehr kleine Kampfeinheit, 20 bis 50 Männer [32]. Im Mai 2022 spricht ein Mitglied der Gruppe während einem Interview von 50 Kämpfern [33]; Operation Solidarity behauptet, zwischen Februar und Juni 2022 mehr als 200 Kämpfer in der ganzen Ukraine unterstützt zu haben, und präzisiert, dass der Zug nur einen Drittel davon repräsentiere [34]. Was die von den uniformiert und bewaffnet rund um eine schwarze Fahne posierenden Aktivisten sehr geschätzten Fotos betrifft, sieht man darauf nie mehr als 25 Personen versammelt. Wenn man die Neigung der Aktivisten zur Beschönigung gewisser Zahlen kennt, kommt man zum Schluss, dass mehrere Dutzend Männer (Anarchisten, Hooligans, Antifas…) Teil des antiautoritären Zuges waren, wahrscheinlich etwa 50 zu gewissen Zeiten, auf jeden Fall sieht man, dass die Mitgliederzahl sehr gering ist [35]. Um sich bewusst zu sein, was das repräsentiert, muss man wissen, dass die ukrainische Armee im Februar 2022 aus 250‘000 Männern bestand, davon 70‘000 Kämpfer der TV; Ende 2023 tragen etwa eine Million Männer die Uniform (davon sind etwa 15‘000 keine ukrainischen Staatsbürger [36]).

Was ist die Aktivität dieser Gruppe?

Den meisten dieser freiwilligen Aktivisten mangelt es nicht an körperlichem Mut und sie möchten so schnell wie möglich an Kämpfen teilnehmen. Einige haben sich in Einheiten der ersten Linie engagiert, oder sie sind es geworden, was nicht für den antiautoritären Zug gilt, besonders aufgrund der Tatsache, dass sich die Front nach dem russischen Rückzug im April 2022 von Kiew entfernt hat. Bis zu ihrer Auflösung im Sommer 2022 ist die Gruppe also nicht an der Front. Die Brigade, zu welcher der Zug gehört, ist eine leichte Infanterieeinheit, die über kein schweres Material verfügt (die Aktivisten hätten die Gelegenheit übrigens bestimmt nicht verpasst, sich davor fotografieren zu lassen), und der Führungsstab gibt ihr Aufgaben, welche viele als untergeordnet, repetitiv und langweilig betrachten, jedoch jene sind, für welche die am weitesten von der Front entfernten Einheiten der TV verantwortlich sind. Der Zug beteiligt sich also an Unterstützungsaktionen für Zivilisten, die Opfer von Kämpfen oder Bombenangriffen geworden sind; er beteiligt sich auch an martialischeren Aktionen wie die Jagd auf infiltrierte Russen, Spione und prorussische Aktivisten (eine Aktivität, die in den ersten Monaten des Konflikts Paranoia in der Bevölkerung ausgelöst und zu etlichen Denunzierungen geführt hat); es handelt sich um eine Arbeit an Checkpoints, auf Patrouille und der Kontrolle, die eher undankbar ist und nicht die tugendhaften Aspekte der Individuen stimuliert [37]. Wenn sie ihre Aktivitäten beschreiben, sprechen die antiautoritären davon, „feindliche Eindringlinge auf[zu]decken und [zu] beseitigen“ [38], „die Berichte der Ortsbewohner über Saboteure und Spione“ zu überprüfen [39]; „wir kämpften gegen die Saboteure, die Fallschirmjäger, bewachten die kritischen Punkte, bauten Strassensperren auf“ [40]. Obwohl diese Operationen kaum prestigeträchtig sind, sind sie nicht immer frei von Gefahr. Gewisse Mitglieder des Zuges beteiligen sich aber auch an einigen Operationen in der Nähe der Kampfgebiete, zum Beispiel um „den Einheiten der ukrainischen Streitkräfte“ zu helfen, „Erkundungsmissionen in Quadrocoptern auszuführen“ [41]. In einem im Mai 2022 veröffentlichten Interview erzählt ein Mitglied des Zuges: „Als Einheit sind wir noch nicht an direkten Kämpfen beteiligt gewesen. Zu Beginn des Krieges patrouillierten wir allerdings in Gebieten, wo die Präsenz von feindlichen Ablenkungsgruppen vermutet wurde. Die Mitglieder der Einheit unterstützten auch die Einheiten in der ersten Linie durch die Beteiligung an der Logistik oder mit Informationen (durch die Benutzung von Drohnen). Sie schafften es, eine der feindlichen Positionen aufzudecken, die danach von der Artillerie getroffen wurde. Und sie halfen bei der Evakuierung von Zivilisten aus dem Kampfgebiet. Im Verlauf dieser Aktivitäten wurden unsere Genossen unter Mörserfeuer genommen.“ [42]

Anfang Juli ist die Stimmung der Männer im Zug ziemlich schlecht, denn sie waren immer noch „an fast keiner Aktion beteiligt“. Die erfahrensten unter ihnen (da ehemalige Kämpfer im Donbass oder in Syrien) beruhigen sie und erklären ihnen, absolut zu Recht, dass „der Krieg aus sehr verschiedenen Phasen und Situationen besteht. Die Kampfsituationen selbst machen nur 1% oder weniger der gesamten Zeit aus. Die Fähigkeit, zu warten, geduldig zu sein und mit der ‚toten Zeit‘ umzugehen ist eine nützliche Kompetenz, die jeder Partisan entwickeln und verinnerlichen sollte.“ [43] Pech gehabt – denn aufgrund des Eintreffens der von der NATO gelieferten Ausrüstung sind es andere Einheiten der TV, die, nachdem sie „aufgerüstet“ worden sind, im Verlauf des Jahres 2022 an die Front geschickt werden – was manchmal ihre Mitglieder verzweifeln lässt, denn sie meldeten sich freiwillig, besonders in den westlichen Oblasten, weil sie glaubten, dass sie in sicherer Entfernung von den Kämpfen sein würden.

Wie steht es mit der Hierarchie in der Gruppe?

Wie häufig bezüglich des antiautoritären Zuges verfügen wir nicht über präzise und synthetische Informationen über die Funktionsweise der Gruppe, nur über zerstreute Bruchstücke aus Interviews (und die verschiedenen Übersetzungen sind dem Verständnis nicht immer zuträglich). Gemäss den Standards der NATO ist ein Zug die kleinste Einheit, die von einem Offizier befehligt werden kann, in der Regel ein Oberleutnant sekundiert von Unteroffizieren (darunter spricht man von Gruppen oder Trupps). Der Offizier, der den antiautoritären Zug befehligen muss, wird von der militärischen Befehlsgewalt designiert (aufgezwungen, es ist alles andere als sicher, dass es sich um den Antifa-Offizier am Ursprung dieses Abenteuers handelt), genau wie die Unteroffiziere (vielleicht in seinen Reihen unter den erfahrensten Mitgliedern ausgewählt). Um das hierarchische Verhältnis erträglicher zu machen, wählen die Mitglieder des Zuges jedoch eine Art Stellvertreter (ohne Dienstgrad), die als Vermittler zwischen den Männern der Truppen und ihren Vorgesetzten dienen, sie können zum Beispiel Kritiken oder Beschwerden weiterleiten. Ein Aktivist berichtet: „Wir haben keine spezifischen Bedingungen, die uns von jeder anderen Unterdivision der TV unterscheiden würde. Wir haben jedoch einen ziemlich freien Raum, um unser internes Leben zu organisieren, und dieser ist auf ziemlich demokratische Art und Weise organisiert, wenn er auch den Anforderungen einer gewissen militärischen Hierarchie entspricht.“ [44]

Ein anderer: „Die militärische Führung hat sich kaum in unsere innere Ordnung eingemischt. Wir haben unsere Struktur nicht gemäss dem idyllischen Bild einer perfekt anarchistischen Miliz organisiert, wo alle Stellen gewählt und der Generalversammlung unterstellt sind. Zumindest teilweise ist der Grund dafür, dass die Einheit aus vielen verschiedenen Personen besteht, die nicht alle Anarchisten sind.“ [45]

Die einzige erwähnenswerte Besonderheit ist die tägliche Praxis des tekmil auf der Ebene der Gruppe, es handelt sich um eine wahrhafte „Sitzung zur Kritik und Selbstkritik, während welcher die Entscheidungen der militärischen Führung und der Ausbildungsprozess diskutiert [werden]“. Es handelt sich auch hier um den Import von Praktiken der PKK und der YPG [46].

Trotz den zur Schau getragenen libertären Idealen kann sich die Gruppe dem Aufkommen von „versteckten Machtkämpfen, konkurrierenden Machtambitionen und persönlichen Konflikten im Allgemeinen“ [47] natürlich nicht entziehen. Die angetroffenen Schwierigkeiten beleben auch die Rivalitäten zwischen politischen Gruppen (oder Mitgliedern von Gruppen) neu und lassen die Meinungsverschiedenheiten wieder hervortreten, die vom ursprünglichen Enthusiasmus in den Hintergrund gedrängt worden sind.

Es ist nicht erstaunlich, dass die ukrainische Armee anfangs spezifische Organisationsweisen und etwas Flexibilität erlaubt, solange es nicht stört, sondern die Befehlskette oder die Erledigung von Aufgaben effizienter macht. Zu Beginn des Konflikts wurden viele Einheiten aufgrund von spezifischen Grundlagen gebildet, seien sie ethnisch, national (Tschetschenen, Weissrussen, Russen, Georgier), politisch (von rechts bis zu allen Spielarten des ukrainischen Rechtsextremismus) oder hinsichtlich der Wünsche von Oligarchen oder Chefs von Unternehmen [48], und sie rivalisieren im Streben nach Prestige und finanzieller Unterstützung; im Notfall werden vernünftige Zugeständnisse also akzeptiert. Es ist klar, dass in dieser Umgebung das Bataillon, das sich dadurch auszeichnet, über einen Zug von anarchistischen Aktivisten zu verfügen, wenig Chancen hat, eine prestigeträchtige Aufgabe zu erhalten… Es handelt sich dennoch nicht um eine Bestrafung, denn es würde genügen, diesen Zug in den tödlichsten Sektor der Front zu schicken um sich des Problems definitiv zu entledigen.

Der ukrainische Führungsstab, der seit Jahren versucht, ein bisschen Ordnung in all das zu bringen (besonders in all die 2014 gebildeten Einheiten nationalistischer Freiwilliger) und den Standards der NATO zu entsprechen, ist mit der russischen Invasion vor eine kompliziertere Aufgabe gestellt, aber im Verlauf der Monate nimmt die militärische Hierarchie die Dinge wieder in die Hand.

Ende und Fortsetzungen

Im Juli 2022 hört der antiautoritäre Zug aufgrund dieser Schwierigkeiten, der administrativen und bürokratischen Last und der schwachen Truppenmoral auf, als solcher zu existieren [49]; die ihn bildenden Elemente lösen sich auf im Rest der Truppen oder werden auf die verschiedenen Einheiten der Armee verteilt [50]; einige, besonders die ausländischen Freiwilligen, haben es in der Zwischenzeit bereits geschafft, den Zug zu verlassen und an die Front zu kommen [51]. Die Telegram-Kanäle zeigen, dass gewisse Aktivisten nun an verschiedenen Orten der Front präsent sind; so beteiligen sich etwa 30 an der Offensive im September 2022 im Osten Charkiws [52], doch seither sind etwa 15 im Gefecht getötet worden. Im Oktober 2022 behauptet Solidarity Collectives, es würden immer noch ungefähr 70 Antiautoritäre unterstützt [53]; sie sind jetzt alleine oder in kleinen Gruppen zwischen verschiedensten Einheiten und Aktivitäten zerstreut, inmitten Hunderttausender Soldaten auf einer mehr als 1‘000 km langen Frontlinie und berichten von ihrem alltäglichen Leben auf den sozialen Medien: Vier sind Mitglieder der Spezialkräfte (wahrscheinlich im 23. Bataillon der Präsidentenbrigade Hetman Bohdan Chmelnyzkyj); ein anderer ist Scharfschütze geworden; sechs (davon fünf des ehemaligen Zuges) dienen in der Mörsereinheit der TV; fünf oder sechs andere sind scheinbar Teil einer Sektion der Luftaufklärung (Drohnen, die Ziele für die Artillerie bestimmen) der 92. mechanisierten Brigade, eine von einer Unteroffizierin angeführte Gruppe, eine Frau namens Swallow, die sich als Anarchafeministin präsentiert und behauptet, horizontale Praktiken (Wahl von Verantwortlichen, Kooperation auf Basisebene, Ablehnung der Hierarchie usw.) zu fördern.

Alle dienen in Einheiten, in denen eine patriotische Politikverdrossenheit oder diverse Formen des Nationalismus, oder gar noch Schlimmeres, die vorherrschenden Meinungen sind. Die Anarchisten und Antifas, die häufig über ihren Umgang befragt werden, beschreiben allerdings in der Regel ihre neuen Kollegen als sehr inklusiv, tolerant und brüderlich und vor allem damit beschäftigt, einer gemeinsamen Sache zu dienen (die Russen zu besiegen). Ein weissrussischer Aktivist erklärt: „In einem Schützengraben, wenn Drohnen über dich hinwegfliegen, ein Scharfschütze dich im Visier hat oder ununterbrochen Schüsse über deinen Kopf pfeifen, in diesem Schützengraben kann irgendjemand dein bester Freund sein, es könnte ein Fascho, es könnte irgendjemand sein, das hat nicht die geringste Bedeutung.“ [54] Ein anderer „Antiautoritärer“, der in einer nationalistischen Einheit kämpft, betont sogar, dass sich die „Faschos“ in den Schützengräben und im Kasernenbereich verändern und weniger sektiererisch und offener werden, weil sie letztendlich verstehen, dass ihre politischen Feinde von gestern schlichtweg „Leute wie alle anderen auch“ [55] sind… Ein psychologisches Phänomen, gegen welches, man wird es verstanden haben, die linken Aktivisten glauben, auf wundersame Weise immun zu sein; wir können also beruhigt sein. Diese Art von Reaktion ist in Tat und Wahrheit ziemlich klassisch: Es handelt sich um nichts Geringeres als um diese Waffenbrüderschaft, die im Gefecht Menschen vereint, die im Vornhinein alles hätte trennen sollen, ohne sie ist das Überleben unmöglich – ein Mechanismus, der in Tausenden von Büchern über die Kriege des 20. Jahrhunderts beschrieben wird. Eine virile Kameradschaft und ein Respekt, der für die Zivilisten und die Drückeberger unerreichbar ist, und sie überdauern häufig den Konflikt [56].

Roger Caillois beschreibt es treffend in Der Mensch und das Heilige: „Der Feuertaufe wird höchste Wirksamkeit zugeschrieben. Durch sie wird der Mensch angeblich zum furchtlosen Offizianten eines tragischen Kultes, zum Erwählten eines eifersüchtigen Gottes. Zwischen denen, die gemeinsam diese Weihe empfangen oder Seite an Seite die Gefahren der Schlacht teilen, herrscht Waffenbrüderschaft. Die Kämpfer sind durch dauerhafte Bindungen und ein Gefühl der Überlegenheit und des Zusammenhalts im Hinblick auf diejenigen vereint, die nicht in Gefahr waren oder im Kampf keine aktive Rolle spielten. Es genügt nämlich nicht, sich der Gefahr ausgesetzt zu haben, man muß den Gegner auch getroffen haben. Es handelt sich um eine zweifache Weihe. Sie beinhaltet nicht nur, daß man zu sterben, sondern auch, daß man zu töten wagt. Ein Sanitäter hat kein Prestige […] Man kann hier Spuren der charakteristischen Situation jener Männerbünde primitiver Zivilisationen wiederentdecken, in die man nach schmerzhaften Prüfungen eintritt und deren Mitglieder in der Gemeinschaft besondere Rechte genießen.“ [57]

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Anzahl der in der Armee präsenten Antiautoritären schwindet, sei es nur, wir haben es gesehen, aufgrund der Toten und Verletzten; in Anbetracht der Entwicklung der Kämpfe sind jene Freiwilligen, welche bereit sind, sie zu ersetzen, wohl immer seltener – die ersten Kriegswochen, die scheinbar aus Guerilla-Aktionen und romantischen Hinterhalten gegen idiotische Russen bestanden, haben nun schrecklichen Schützengräbenkämpfen und Artillerieduellen Platz gemacht. In der gesamten ukrainischen Gesellschaft sind der Enthusiasmus und der Patriotismus der ersten Tage des Krieges von der Angst vor der Mobilisierung in den Hintergrund gedrängt worden; die Folge davon ist eine enorme Fluchtbewegung und eine Welle von Desertionen und Ungehorsam, die sich 2023 entwickeln und die Regierung nur mit Mühe in Schranken halten kann. Man erfährt beiläufig in einer Nachricht auf Telegram, dass Solidarity Collectives inzwischen auch Gewerkschafter unterstützt, die sich freiwillig der Armee angeschlossen haben, aber auch Mobilisierte – die definitionsgemäss keine Freiwillige sind! Man kann sich übrigens durchaus die Frage stellen, wie gewisse Aktivisten, die nicht müde wurden, die Vorzüge des Kampfes an vorderster Front anzupreisen, sich jedoch dahinter als nützlicher betrachteten, heute reagieren, konfrontiert mit einer immer zwingenderen Wehrpflicht.

Die Vorstellung anarchistischer Brigaden, die totalitäre russische Horden zurückdrängen, hat im Westen zu vielen Träumereien geführt, doch die Realität, mit welcher man konfrontiert ist, jene des antiautoritären Zuges oder einiger zu Soldaten gewordener Individuen, ist weit weniger verzückend. Man muss eingestehen, dass es seit Anfang des Krieges nie eine anarchistische militärische Einheit gab, allenfalls eine Einheit der Armee, in welcher ein Teil der libertären und antifaschistischen Freiwilligen zusammengekommen sind.

Wieso dieses „Scheitern“? Mehrere Aktivisten meinen, sie hätten einfach nur Pech gehabt, besonders als der Kommandant ihres Bataillons im Frühling 2022 ersetzt wurde: Der neue Offizier, viel weniger sympathisch als der vorherige, habe den vollständigen Ausdruck der libertären Möglichkeiten seiner Männer nicht erlaubt, allen voran, weil er ihnen keine Kampfmissionen gab… Andere glauben, dass zuvor viel zu viel Zeit und Energie mit antimilitaristischen Ideen verschwendet worden waren, was zu einem flagranten Mangel an Vorbereitung und Organisation geführt habe – eine Erklärung, die ihnen offensichtlich scheint, wenn sie sich mit den zahlreichen rechtsextremen Einheiten vergleichen, die gut ausgerüstet sind und viel rekrutieren, effizient, sehr präsent in den Medien und populär sind – und es dann bereuen, dass die Anarchisten ab 2014 ihrem Beispiel hinsichtlich Organisation nicht gefolgt sind! [58] Das erinnert an die Lehren bezüglich der Frage des Zwecks und der Mittel, diesem immerwährenden Mangel an Organisation der Libertären gegenüber ihren Widersachern, die Nestor Makhno aus dem russischen Bürgerkrieg ziehen wollte… [59] Ja, klar, wenn die Anarchisten am besten strukturiert, militärisch am besten organisiert, besser ausgerüstet, besser trainiert und effizienter wären, würden sie vielleicht auf den Schlachtfeldern gewinnen. Aber wären sie dann noch Anarchisten? Die Revolution wird kein Gala-Diner sein, ganz bestimmt nicht. Doch sie wird auch keine militärische Konfrontation, keine Aneinanderreihung von Siegen der Armee der Proletarier/Aktivisten über jene der Kapitalisten sein und dabei die radikalen Transformationen der Gesellschaft auf den Sankt-Nimmerleinstag verschieben. Sie wird faktisch die Abschaffung des Staates, des Werts, der Lohnarbeit, der Klassen (und somit des Proletariats), der Geschlechterrollen usw. sein, die Abschaffung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die Schaffung neuer – ein Prozess, der manchmal mit dem Begriff der Kommunisierung beschrieben wird. [60]

Schlussfolgerung

„Von einem anarchistischen Standpunkt aus und ohne falsche Prinzipientreue oder opportunistische Betrachtungen, sondern mit Bescheidenheit und Verständnis, sollten wir versuchen, aus der spanischen Revolution Lehren zu ziehen. Ich bin überzeugt, dass eine blinde Bewunderung ohne jegliche Kritik unsere Bewegung weit mehr als eine ehrliche Einräumung der vergangenen Fehler schwächen wird.“

Maria Luisa Berneri

„[I]ch sammle Wörter. Es gibt viele lange Wintertage – und dann wissen wir nicht mehr, worüber wir sprechen sollen.“

Leo Linni

Wir haben hier die Aktionen seit Februar 2022 von gewissen Individuen erörtert, die sich als Anarchisten, Antiautoritäre und Antifas bezeichnen; es sollte daran erinnert werden, dass sie deswegen nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Aktivisten dieser Strömungen im Land sind. In etlichen Ländern kommen, nach einer mehr oder weniger langen Periode, wo eine herablassende Milde gepaart mit viel Unbehagen vorherrschte, die Debatte und Kritik in den aktivistischen Medien auf. Sogar in der Ukraine selbst sehen einige nicht wirklich, in welcher revolutionären Tradition diese Freiwilligen in Uniform stehen könnten [61].

Die Mehrheit der ukrainischen Anarchisten entschied sich wahrscheinlich dafür, die Kriegsanstrengungen gegen die russische Invasion zu unterstützen, doch es gab eine Debatte und antimilitaristische und internationalistische Positionen kamen darin vor. In Anbetracht der autoritären Auswüchse des ukrainischen Machtapparats riskieren jene, welche den Burgfrieden, den Krieg, alle Armeen (und somit die Wehrpflicht), alle Staaten und den Kapitalismus verurteilen wollen, scharfe Repression unter dem Kriegsrecht. Sie können also keine Lokale oder Homepages haben, nicht zu Unterstützung aufrufen oder Aktionen durchführen und sind somit dazu verurteilt, in andere Länder zu flüchten oder sich in eine sehr gefährliche Klandestinität zu begeben. Einige Individuen versuchen noch, einen klassischen und wenig spektakulären Aktivismus zu betreiben, d.h. mit grosser Vorsicht [62]. Das gilt zum Beispiel für die Gruppe Assembleia in Charkiw, die jene Bevölkerungen humanitär unterstützt, welche Opfer vom Konflikt geworden sind, weiterhin, allen voran von einem lokalen Standpunkt aus, über soziale Fragen (Urbanismus, Ökologie und Korruption) spricht und auf ihrer Ebene am Informationsaustausch zur Umgehung der Wehrpflicht auf Telegram teilnimmt [63]. Wir werden detaillierter auf die ukrainischen Gegner des Krieges und der Armee in einem späteren Artikel zurückkommen.

Somit könnte man sich die Frage stellen, was die Aktivität von etwa 50 Aktivisten ohne den geringsten Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse inmitten von fast einer Million Uniformierter nützt. Wenn diese Aktivität tatsächlich eine Auswirkung hat, dann wahrscheinlich auf das Milieu mit revolutionärem Anspruch im Westen. Über die sozialen Medien adressieren sich die ukrainischen Antiautoritären regelmässig an ebendiese linksradikalen Aktivisten, Antifas, Anarchisten und sogar Autonomen, um eine finanzielle Unterstützung und ein mediales Echo zu bekommen; so werden Konzerte, Unterstützungsabende oder T-Shirt-Verkäufe in den Lokalen der Aktivisten organisiert. Man verbreitet dort, ohne es zu wagen, ihn zu kritisieren, den Diskurs der die nationale Verteidigung gutheissenden ukrainischen Aktivisten, der, vergessen wir es nicht, als innovativ und pragmatisch dargestellt wird und von dem gesagt wird, dass er die westlichen Revolutionäre betreffend der Vorbereitung des kommenden Krieges inspirieren soll. Aber was würde das bedeuten? Sollte man sich, um konsequent sein, dem Äquivalent der TV anschliessen, d.h., in Frankreich, dieser Nationalgarde, deren Formation 2016 von den Aktivisten als Zeichen einer abscheulichen Militarisierung der Gesellschaft und ihr faschistischer Auswuchs denunziert wurde? [64] Wenn man gewissen ukrainischen Antifas zuhört, wäre es jedoch von grösstem Interesse für einen jungen französischen Aktivisten, sich dieser Nationalgarde anzuschliessen und dort, auf die Gefahr hin, auf „Faschos“ zu treffen (die, wir haben es weiter oben gesehen, sich im Alltag als sympathische Typen herausgestellt haben), den Umgang mit Waffen und den Kampf zu lernen… In diesem Fall sollte man sich jedoch vielleicht, und besonders, wenn man wünscht, dass das „französische Volk“, genau wie das „ukrainische Volk“, auch fähig ist, „sich zu verteidigen“, dass die Mittel und die Mitgliederzahl dieser Garde vergrössert werden oder sogar, dass der obligatorische Wehrdienst wieder eingeführt wird!

Was sollte man sonst noch von diesen ukrainischen Aktivisten lernen? Den notwendigen Pragmatismus? Die Notwendigkeit einer verstärkten Organisation für mehr Effizienz? Das Primat der Aktion über das Nachdenken und des Militärischen über das Politische? Die positiven Aspekte des Nationalismus (der „befreiend und kreativ“ sein könne, wie es uns schon Rojava gezeigt habe)? [65] Die Hinfälligkeit des Antimilitarismus und des Internationalismus in Kriegszeiten? Die Hinfälligkeit des Antifaschismus, sobald man Seite an Seite mit den Faschisten für ein gemeinsames Ziel (die Verteidigung der Demokratie) kämpft? Die notwendige Pausierung jeglicher sozialer Kritik im Falle eines Krieges (während man auf die Rückkehr des Friedens und den Sieg des Guten über das Böse wartet)? Die Idee, das Räderwerk des Staates zu benutzen, wenn man nicht stark genug ist, um ihn zu vernichten? Eine Reihe von Ideen, denen wir schon während den schlimmsten Momenten der Geschichte der Arbeiterbewegung begegnet sind. Um nur auf zwei Punkte einzugehen: Es ist ziemlich überraschend, eine politische Meinung auszuklammern, sobald es zu einer Krise kommt, da sie eben genau in solchen Situationen von Interesse ist! [66] Die Notwendigkeit ihrerseits, bei jeder Gelegenheit „etwas zu tun“, gehört eher zu den persönlichen existenziellen Fragen und den aktivistischen Reflexen als zu irgendeiner moralischen Verpflichtung.

In Europa haben sehr wenige Gruppen und Organisationen klassische revolutionäre Positionen eingenommen, die meisten haben für eine Verurteilung des Krieges gepaart mit einer scheuen Unterstützung für den „ukrainischen Widerstand“ optiert; gewisse Linksradikale, Anarchisten und Autonome haben sich sogar dafür entschieden, eine Initiative zu unterstützen, die grundsätzlich von militaristischer Art und offensichtlich patriotisch geprägt ist… Die ukrainischen Deserteure, Verweigerer und Antimilitaristen, die sich weigern, geschlachtet zu werden, sind meistens vergessen gegangen [67]; obwohl es wahr ist, dass letztere sich nicht medial in Szene setzen konnten, war es vom ersten Tag der Invasion an unmöglich, ihre Existenz zu übersehen. Das zeigt einmal mehr, inwieweit, sogar „links“, eine Uniform, ein Sturmgewehr und/oder eine Kampferfahrung – Virilität in hohen Dosen – faszinieren und eine scheinbare politische Glaubwürdigkeit verschaffen können. Eine – meist virtuelle – Unterstützung, die in der Regel nicht von einem Bruch oder einer Abweichung gegenüber einem alltäglichen Aktivismus zeugt, sondern eher von einer banalen Kontinuität… Wir greifen hier einige Sätze unseres Artikels vom Mai 2022 wieder auf, es ging darin schon kurz um die Aktivisten, welche die nationale Verteidigung gutheissen: „Wir wiederholen es, es geht hier für uns nicht darum, die Art und Weise zu kritisieren, wie Leute auf die Bombardierung ihrer Stadt oder ihres Landes reagieren, sondern gegebenenfalls um die an uns gerichteten Diskurse und v.a. jene über sie.


Die Bereitschaft ist mittlerweile im Aktivistenmilieu solide verankert, überall revolutionäres „Potenzial“ zu sehen, v.a. wenn die Region weit weg und exotisch ist – ein Standpunkt, der hier besonders an den Haaren herbeigezogen ist. Doch jenseits dieses Reflexes sind die Gespenster, welche die ukrainische Frage auf sehr verführerische Art und Weise und vielleicht offener als andere „Operationsfelder“ heimsuchen, nichts anderes als der Militarismus, der Nationalismus und das Konzept des Burgfriedens, morbide Varianten des Interklassismus. Ideologien, von denen sogar die erfahrensten und theoretisch bewandertsten Aktivisten mitgerissen werden können, wenn die Umstände passen, die Geschichte hat es auf traurige Art und Weise gezeigt.

Es ist aber so, dass wir keine Bombenangriffe erdulden müssen, dass in unseren Strassen keine Kämpfe stattfinden und dass wir nicht Gefahr laufen, jede Minute getötet zu werden. Wir haben also keine Entschuldigung, keine Entschuldigung, um den Kopf zu verlieren. Wir können von relativ komfortablen Rahmenbedingungen profitieren, um ruhig über die laufenden Ereignisse nachzudenken. Es wäre falsch, sie nicht zu missbrauchen, denn diese Rahmenbedingungen verschwinden vielleicht schneller als wir glauben.“ [68]

Denn wie wird Europa in zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren aussehen? Wie wird es um das deutsch-französische Verhältnis oder den russischen Einfluss stehen? Wer weiss es? Alles, was man beobachten kann, sind eine allgemeine Remilitarisierung und einige Länder (Deutschland, Polen und die Ukraine), die versuchen, die mächtigste Armee des Kontinents aufzubauen. Viele verstehen endlich, dass die Beteiligung Frankreichs an einem Konflikt mit hoher Intensität, der sich auch bis auf seinen eigenen Boden ausdehnen kann, nicht nur ein dystopisches Szenario darstellt… Doch im Gegensatz zu dem, was nun viele zu glauben scheinen, wird der Krieg, der den Kern Europas heimsuchen wird, womöglich nicht ein Krieg zwischen der NATO und Russland sein. Auf alle Fälle wird, sollte eine solche Katastrophe eintreten, das offizielle und mediale Narrativ zwingend jenes des Guten („wir“) gegen das Böse („unsere“ Feinde) sein [69]; doch wie werden wir dann reagieren?

Stellt euch vor, dass ihr in einer nicht so fernen Zukunft in einem Frankreich, das nun im Krieg ist, alte Genossen trefft, die euch erklären, dass man die französische Armee unterstützen muss, dass junge und mutige Aktivisten sich freiwillig engagiert haben, dass man die Regierung in diesem schwierigen Moment nicht kritisieren soll, dass die Streikenden wirklich verantwortungslos sind usw., denn heutzutage „ist es nicht mehr wie früher“ – obwohl es eben genau immer noch genau gleich ist, immer noch zwei Bourgeoisien, die einander entgegenstehen und ihre jeweiligen Proletarier in den Tod schicken. Angesichts der Geschichte der Arbeiterbewegung [70] und gewissen gegenwärtigen Positionsbezügen wäre eine solche Szene alles andere als erstaunlich; viele werden sich selbst verleugnen und sehr wenige werden dazu stehen (die Verurteilung dieser Tatsache heute sagt nichts über unsere morgigen Entscheidungen aus). Ist es dennoch notwendig, schon heute damit zu beginnen? Können wir nicht im Gegenteil vom „Luxus“ des Friedens profitieren, solange wir ihn noch geniessen können, um zu überlegen, bevor wir Position beziehen?

Die dreckigen Zugeständnisse von 1914 erlaubten zumindest (für eine gewisse Zeit) die Definition von klaren politischen Trennlinien und das Auftauchen von (anfänglich minoritären) Gruppen von Revolutionären, als ein in diesem Ausmass noch nie gesehener proletarischer Angriff das alte Europa erzittern liess. Die gegenwärtige Periode bestätigt, dass sich die Dinge jenseits der Minderheiten mit revolutionärem Anspruch abspielen werden.

Wir werden in einem nächsten Artikel auf hoffnungsvollere Tatsachen zurückkommen und von der Art und Weise sprechen, wie die Proletarier im Alltag und ohne Ideologie dem laufenden Gemetzel im Osten und Süden der Ukraine zu entfliehen suchen.

Tristan Leoni, Januar 2024

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle


[1Dieser Artikel muss als zweiter Teil betrachtet werden. Im Mai 2022 erörterten wir den die Ukraine heimsuchenden Konflikt in einem langen Artikel, Adieu Leben, Adieu Liebe … Ukraine, Kriegund Selbstorganisation, der auf dem Blog DDT21 veröffentlicht und in verschiedene Sprachen übersetzt worden ist. Man findet dort einige erste Überlegungen zu den anarchistischen Kämpfern, über die man damals nur sehr wenige Informationen hatte. Seither sind ihnen in der aktivistischen Presse etliche Artikel, Interviews und Dokumentationen gewidmet worden, sie sind jedoch stets partiell und knapp, sowie häufig hagiographisch. Soweit wir wissen, hat niemand (und besonders nicht ihre eifrigsten Bewunderer) versucht, die Geschichte und die Aktivitäten dieser Aktivisten auf einfache und synthetische Art und Weise zu präsentieren. Wir begnügen uns hier damit, die zerstreuten Informationen zusammenzubringen, die in den verschiedenen Dokumenten verfügbar sind, einige Teile dessen zusammenzulegen, was ein endgültiges Bild davon sein soll.

[2Wir benutzen diesen Begriff in seiner klassischen Bedeutung, die im Kriegsfall die Weigerung beschreibt, ein Lager gegen ein anderes zu verteidigen (da beide definitionsgemäss kapitalistisch sind), den Antimilitarismus, den revolutionären Defätismus und den Aufruf zur Verbrüderung zwischen den beteiligten Proletariern (gegen ihre Hierarchien und ihre jeweiligen Bourgeoisien).

[3Es ist vielleicht angebracht, daran zu erinnern, dass der Antifaschismus bloss eine politische Strategie ist und dass diese logischerweise keine Selbstverständlichkeit ist; sie ist übrigens heftig kritisiert worden, vor allem im Italien der 1920er Jahre von der kommunistischen Linken, welche die Einreihung des Proletariats in die Verteidigung einer naturgemäss bürgerlichen Demokratie denunzierte (was die Aktivisten nicht daran hinderte, die Faschisten körperlich anzugreifen). Die Formel des zentralen Theoretikers dieser Strömung, Amadeo Bordiga (1889-1970), hat es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht: „Antifaschismus ist das schlimmste Produkt des Faschismus.“

[5Ilya Leshiy, „ Four Months in an Anti-Authoritarian Platoon in Ukraine“, September 2022.

[6Ebd.

[8Diese antispezistische Gruppe kämpfte davor in den Karpaten gegen die Entwaldung, den Bau von Windrädern und andere Baustellen. Siehe Pramen, „A conversation with anarchists from Ecoplatform fighting in Ukraine“, 27. Dezember 2022. Es ist zumindest eigenartig, dass Aktivisten, die so viel Respekt vor lebenden Wesen zeigen, sich in der Armee engagieren mit dem Projekt, russische Soldaten zu töten…

[10Aufständische und gesetzlose Bauern der bergigen Regionen Galiziens, Transkarpatiens und der Bukowina im 18. Jahrhundert, ihr Anführer war Oleksa Dowbusch.

[11Manifest auf Englisch verfügbar auf der Homepage.

[12Obwohl im Mittleren Osten kein Mangel an autoritären Regimen herrscht, ist es nicht unbedeutend, dass den Autoren nur dieses Beispiel in den Sinn kommt.

[13Eine antifaschistische Front, wovon paradoxerweise eine grosse Anzahl an rechtsextremen Organisationen und Aktivisten teil sind, die bis im Februar 2022 von den Antiautoritären als „Faschisten“ bezeichnet und als solche bekämpft wurden…

[14Zum Beispiel die „Dekommunisierung der Sozialversicherung“, um sie dem Privatsektor zu offerieren. Siehe Hélène Richard, „Arbeiten, kämpfen, durchhalten“, November 2023.

[17Auf der Homepage.

[18Gemäss der Homepage der Organisation sind von den zwischen Februar und Juni 2022 von Operation Solidarity aufgewendeten 59‘680 € 41‘404 € für „militärische Anliegen“ ausgegeben worden.

[19Das Anarchist Black Cross ist ein internationales anarchistisches Netzwerk, das 1907 gegründet worden ist und theoretisch die Unterstützung von politischen und sozialen Gefangenen zum Ziel hat. Die Gruppe aus Dresden hat scheinbar für eine etwas originellere Positionierung optiert.

[21Der Gründer der NGO Frontline Care erklärt: „Der schwierigste Teil unserer Arbeit ist die Kreativität und die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit, nicht der Kauf (von Ausrüstung) selbst und auch nicht die Interaktion mit den Einheiten.“ Daria Shulzhenko, „Donations on decline: Volunteers get creative to keep raising funds for military“, 1. November 2023.

[22Der Influencer Xavier Tytelman wirbt zum Beispiel für Einheiten wie das Team Berlioz oder die Task Force Baguette, in welchen französischsprachige Freiwillige dienen. Diese Verpflichtung, für die Mäzene ein verführerisches Bild zu zeichnen, existiert auch auf einem ganz anderen Niveau: Der Forscher Cédric Mas hält fest, dass „es eine gewisse Anzahl militärischer Operationen gibt, in denen Menschen sterben, verletzt werden oder Glieder verlieren, die nur ausgeführt werden, um Videos herauszugeben und danach eine Informationsaktion durchzuführen“; gehört im Podcast „D’une guerre à l’autre. Comprendre et interpréter l’offensive ukrainienne“, Le Collimateur, Oktober 2023.

[23Solidarity Collectives Statement“, 4. Juli 2022.

[24Auf der Homepage.

[25Die Tatsache, dass sich unter diesen vier Personen routinierte Aktivisten befinden, die über eine mediale Aura und ein gewisses Prestige verfügen (im Gegensatz zum Anarchisten bei Asow?), hat sich womöglich zu ihren Gunsten ausgewirkt. Zur Beteiligung von libertären Aktivisten an rechtsextremen Einheiten, siehe „Un lundi soir à Kharkiv et Kramatorsk: clarifications stratégiques et perspectives politiques“, Juni 2023, oder auch Perrine Poupin, „L’irruption de la Russie en Ukraine. Entretien avec un volontaire de la défense territoriale de Kiev“, 29. März 2022. Zum Kastus-Kalinouski-Regiment, siehe Pierre-Yves Baillet, „Entretien avec Denys ‚KIT‘ Prokhorov, commandant du régiment Kastuś Kalinoŭski“, 8. Dezember 2022.
Es muss auch betont werden, dass es auf den sozialen Medien nur so von Informationen, Gerüchten und wahrscheinlich auch schlichten Verleumdungen hinsichtlich vergangener oder gegenwärtiger geheimer Zusammenarbeit gewisser sehr prominenter ukrainischer Anarchisten mit rechtsextremen Milieus wimmelt. Aus der Distanz und aufgrund der Grenzen automatischer Übersetzung ist es schwierig, herauszufinden, was stimmt und was nicht. Ruhe und Gelassenheit stehen in diesem Milieu auf jeden Fall nicht auf der Tagesordnung.

[26„L’organisation des anarchistes sur le front ukrainien. Entretien avec le Resistance Committee“, op. cit.

[27Wenn man sich der Armee anschliesst, wählt man seine Einheit oder den zugeschriebenen Ort nicht so einfach wie bei der Anmeldung im Schachclub oder im Boxstudio, doch der Mangel an Organisation während den ersten Tagen der Invasion hat wahrscheinlich etwas Flexibilität möglich gemacht.

[28Eine Brigade der Territorialverteidigung (ungefähr 3‘500 Personen) besteht aus einer variablen Anzahl Bataillone (die ihrerseits aus Kompanien bestehen, diese werden aus Zügen gebildet, letztere bestehen aus Gruppen). Die TV des Oblasts von Kiew enthält die 112. und die 241. Brigade.

[30Ilya Leshiy, op. cit.

[32In unserem Artikel vom Mai 2022 schrieben wir folgendes in einer Fussnote: „Wir benutzen das Wort Männer als überholtes Synonym für Soldaten, denn die streitenden Kräfte scheinen für die jüngsten westlichen Entwicklungen hinsichtlich der Geschlechterrollen kaum empfänglich zu sein. Hier, obwohl wir in Europa sind, ist das Schema viel klassischer: Jene, welche kämpfen, sind Männer (ausser vielleicht einige wenige Ausnahmen in der TV) und jene, welche fliehen, sind Frauen, Kinder und Alte.“ Ende 2023 entwickelt sich die Situation aufgrund der Verknappung von Freiwilligen und die Frauen werden immer mehr herangezogen. Wir werden in einem nächsten Artikel auf diese Frage zurückkommen.

[33Tom Lord, op. cit.

[34Siehe ihre Homepage.

[35Obwohl es besonders unpassend ist, zögern einige nicht, den Konflikt mit dem Spanienkrieg zu vergleichen; betonen wir also, dass die Milizen der CNT und der FAI zwischen 1936 und 1937 ungefähr 50‘000 Kämpfer zählen (auf eine Bevölkerung von 25 Millionen Einwohnern in Spanien 1936 gegen 43 Millionen in der Ukraine 2021). Die Revolutionäre aufständische Armee Nestor Makhnos ihrerseits zählte 1919 mehr als 100‘000 Männer.

[36Im Frühling 2022 zählt das Asow-Regiment – die berühmteste der Einheiten der ukrainischen Armee unter jenen, welche offen eine rechtsextreme Ideologie zur Schau tragen – zwischen 3‘500 und 5‘000 Männer. Trotz seiner schweren Verluste, besonders während der Schlacht von Mariupol, scheint der Zustrom an Freiwilligen, die sich ihm anschliessen wollen, nicht abzunehmen und das Regiment wird sogar im Februar 2023 offiziell zur Brigade „aufgewertet“.

[37Siehe unseren Artikel vom Mai 2022 bezüglich dieser Periode der Paranoia und der daraus folgenden unvermeidlichen Auswüchse und Übergriffe.

[39„Voices from the front : Russian anarchist fights for Ukraine“, op. cit.

[41Ebd.

[42Tom Lord, op. cit.

[43Ilya Leshiy, op. cit.

[44Tom Lord, op. cit.

[45Ilya Leshiy, op. cit.

[46„Voices from the Front: Russian Anarchist Fights for Ukraine“, op. cit., Tom Lord, op. cit.

[47Ilya Leshiy, op. cit.

[48Das 206. Bataillon der 112. Brigade der TV, das für die Verteidigung Kiews kreiert worden ist, wird zum Beispiel von ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko ausgerüstet und finanziert.

[49Ilya Leshiy, op. cit.

[50„L’organisation des anarchistes sur le front ukrainien. Entretien avec le Resistance Committee“, op. cit.

[51„Après la fin du bataillon anti-autoritaire, la suite de la résistance anarchiste en Ukraine (entretien avec Salam)“, op. cit.

[52Telegram-Kanäle von Solidarity Collectives und Pramen, op. cit.

[54Ebd.

[55„Après la fin du bataillon anti-autoritaire, la suite de la résistance anarchiste en Ukraine (entretien avec Salam)“, op. cit.

[56Ohne diese Tatsache wäre es zum Beispiel unmöglich, die politischen und intellektuellen Wallungen der Zwischenkriegszeit in Europa oder, in Italien, die abenteuerliche Episode von Fiume (1919-1924), an welcher unklassifizierbare Aktivisten, Protofaschisten, Royalisten und Anarchisten gemeinsam beteiligt waren, zu verstehen.

[57Roger Caillois, Der Mensch und das Heilige (1939), München, Hanser, 1988.

[58„Un lundi soir à Kharkiv et Kramatorsk : clarifications stratégiques et perspectives politiques“, op. cit.

[59Nestor Makhno, dessen Bewegung von den Bolschewiken zerschlagen wurde, sah als einzige Lösung für die künftigen Kämpfe, sich von ihrer Organisationsweise zu inspirieren. Diese Ideen werden besonders in einem Text von 1926 entwickelt, „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union“.

[60Zu diesen Fragen, siehe Bruno Astarian, „Activité de crise et communisation“, 2010, und Gilles Dauvé, De la crise à la communisation, Genf/Paris, Entremonde, 2017.

[61Siehe zum Beispiel Alex Adler, „L’anarchisme britannique succombe à la fièvre de la guerre“ in Initiative de solidarité Olga Taratuta, Nr. 4, Mai 2023, S. 7-19.

Man kann sich entwickeln, seine Meinung ändern. Aber öffentlich einer Sache absagen, für die man während Jahren gekämpft hat, ist nicht einfach, umso mehr, weil man Gefahr läuft, dabei seine Freunde, seine Beziehungen zu verlieren. Man zieht es vor, sich vor sich selbst zu verstecken, zu behaupten, die Welt habe sich geändert, dass unsere Ideale modernisiert werden müssen und man pragmatisch sein müsse.

[62In Frankreich wurden im August 1914 die wenigen revolutionären Aktivisten, die sich weigerten, ihre Ansichten zu verleugnen und sich dem Burgfrieden anzuschliessen, und weiterhin den Antimilitarismus, den Internationalismus und revolutionären Defätismus verteidigten, schnell an die vorderste Front geschickt.

[63Entretien avec le groupe anarchiste Assembly à Kharkiv“ in Le Monde libertaire, 4. September 2022.

[64Es handelte sich in Wirklichkeit um einen administrativen Verbund, der die verschiedenen vorhandenen Reserven zusammenbrachte. Siehe Tristan Leoni, Manu Militari ? Radiographie critique de l’armée, Le Monde à l’envers, 2018, S. 65-66.

[65„Ich würde natürlich gerne eher im Namen der Anarchie als im Namen der Nation kämpfen, doch es handelt sich nur um Symbole und Worte, die am wirklichen Wesen der die Ukraine durchdringenden Bewegung nichts ändern. Wenn ich auf jeden Fall im Moment zwischen ‚Es lebe der König‘ und ‚Es lebe die Nation‘ wählen muss, entscheide ich mich ohne zu zögern für die Nation!“ Perrine Poupin, op. cit.

[66Diesbezüglich sieht man, dass die Debatten zwischen Anarchisten während des Ersten Weltkrieges alles andere als verstaubt sind; sie sind im Gegenteil besonders aktuell. Siehe die Broschüre Les anarchistes contre la guerre, de 1914 à 2022.

[67Bezüglich Frankreich sollte man besonders die Initiative Olga Taratuta erwähnen und begrüssen, eine Gruppe, die Flüchtlinge, Deserteure und Pazifisten unterstützt, egal, ob sie aus Russland, Weissrussland oder der Ukraine kommen. Mehr Infos auf ihrer Homepage.

[68Tristan Leoni, „Adieu Leben, Adieu Liebe … Ukraine, Krieg und Selbstorganisation“, op. cit.

[69Man kann beobachten, dass, wenn während einem Konflikt die Aktivisten das Lager des Guten wählen, es meistens jenes ist, welches von den herrschenden bürgerlichen Medien als solches designiert wird (Palästina ist hierfür die Ausnahme); siehe diesbezüglich Claude Guillon, Dommages de guerre : Paris-Pristina-Belgrade 1999, L’Insomniaque, 2000. Man entscheidet sich in der Regel nicht für ein Lager, wenn der Konflikt nicht prominent in den Medien vertreten ist; die Kriege, die seit Jahren im Jemen, im Kongo oder im Sudan wüten, sind gute Beispiele dafür.

[70Zu den Meinungsänderungen in letzter Minute innerhalb der französischen Arbeiterbewegung im Sommer 1914 sollte man unbedingt das Werk von Jean-Claude Lamoureux lesen: Les Dix Derniers Jours, Les Nuits rouges, 2013.