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Die Wirrungen der Wertkritik auf heiligem Land

Sonntag 29. Dezember 2024

Am letzten 12. November teilte der Administrator der französischsprachigen Homepage Palim-Psao eine Nachricht des Kollektivs Golem, die dazu aufrief, sich an seiner Seite zu mobilisieren und am nationalen Marsch gegen Antisemitismus am gleichen Tag teilzunehmen [1]. Gemäss diesem Kollektiv gehe es darum, sich einer Beteiligung der äusseren Rechten an diesem Marsch entgegenzustellen, diese „instrumentalisiert den Kampf gegen den Antisemitismus, um ihre Vergangenheit, ihre Sichtweise und ihre antisemitischen, rassistischen und islamophoben Strukturen zu rehabilitieren“. Am Schluss des Aufrufs des Kollektivs stand folgender Vorschlag: „Kommt mit uns an den Marsch, um sie [die Faschisten] zu blockieren!“

Dieser Artikel verurteilt die Bürgschaft der Wertkritik für den Marsch am 12. November, doch er hat vor allem zum Ziel, aufzuzeigen, was in der kritischen Werttheorie eine solche Initiative möglich oder gar unvermeidlich gemacht hat. Nur in einer Konfrontation mit der Wirklichkeit kann eine Theorie ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und ihre Relevanz unter Beweis stellen. Die Beteiligung der Wertkritik am nationalen Marsch gegen den Antisemitismus hat die Gebrechlichkeit ihrer Radikalität und die Leere der emanzipatorischen Ansprüche ihrer Theorie aufgezeigt.

Der Artikel besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen: Ein erster Teil ist einer Kritik der theoretischen Positionen der Wertkritik sowie ihrer Mobilisierungen gegen den Antisemitismus gewidmet und ein zweiter Teil betrifft die Frage des Zionismus und Israels insoweit, als die antizionistischen Positionsbezüge von der Wertkritik, aber auch institutionell von den Staatsmächten im Westen, mit Antisemitismus gleichgesetzt werden.

A – Erster Teil

Schon seit Jahren hat die Strömung der Wertkritik in Frankreich, via ihren Blog Palim-Psao und ihren Verlag Crise & Critique, aus dem Kampf gegen den Antisemitismus eine zentrale Achse ihrer Aktivitäten gemacht. Neben der eben erwähnten geteilten Nachricht und den zahlreichen diesem Thema gewidmeten Texten kann man noch eine Veranstaltung zur „kritischen Theorie des Antisemitismus und des Rassismus“, die sich mit „dem Antisemitismus und der Linken“ befasste, sowie einen von den Mitgliedern des RAAR (Aktionsnetzwerk gegen den Antisemitismus und den Rassismus) animierten Workshop zur Einführung in die „antikapitalistische Kritik des modernen Antisemitismus und der Verschwörungstheorien“ erwähnen, beide fanden während den Sommerlagern 2020 und 2021 der Vereinigung Crise & Critique statt.

In Anbetracht dieser Tatsachen stellt sich folgende Frage – oder sie drängt sich gar auf: Wie kommt es, dass eine Organisation, welche die radikale Kritik der kapitalistischen Gesellschaft zum Ziel hat und die menschliche Emanzipation von der Herrschaft der Waren propagiert, sich mit der diese Mobilisierung organisierenden politischen Klasse an einem Aufruf zu einer Demonstration für die Verteidigung der „Werte der Republik“ und gegen den Antisemitismus beteiligt? Der Graben, der diese beiden Extreme voneinander trennt, ist tatsächlich sehr tief und es scheint mir, aufgrund der Ansprüche der Wertkritik, eine subversive und revolutionäre Kritik der kapitalistischen Gesellschaft zu verkörpern, wesentlich, hier den genauen Sachverhalt zu erläutern.

1. Der Kontext

Es sollten zuerst die Zusammenhänge erklärt werden. Die Initianten der Demonstration am 12. November machten bekannt, dass sie die „Werte der Republik“ verteidigen und präziser durch diese Mobilisierung eine Antwort der Nation auf eine französische Situation geben wollen, die, gemäss dem Innenministerium, seit dem Beginn der israelischen Bombenangriffe auf den Gazastreifen innerhalb des nationalen Territoriums vermehrt von antisemitischen Akten geprägt war.

Diese israelischen Bombenangriffe begannen am Tag nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober gegen das israelische Territorium an der Grenze zum Gazastreifen, während welchem bewaffnete Aktivisten dieser Organisation (denen sich für diese Operation, gemäss den offiziellen Versionen, andere im Gazastreifen präsente Kampffraktionen angeschlossen haben) ungefähr 1‘200 Personen massakriert, ein Drittel davon Soldaten und Polizisten [2], und 240 andere entführt haben, darunter Kinder, Frauen und alte Leute. Einen Monat später, etwa am 10. November, gaben die UNO, die UNRWA und Human Rights Watch bekannt, dass während den ununterbrochenen Militäroperationen Tsahals mehr als 10‘000 Menschen gestorben sind, damit bestätigten sie die vom palästinensischen Gesundheitsministerium kommunizierten Zahlen [3].

Seit dem Beginn dieser Massenmassaker im Gazastreifen erleben wir nicht nur jeden Tag eine Intensivierung und Ausweitung dieser wahllosen Vergeltungsmassnahmen gegen die Gesamtheit der darin lebenden Bevölkerung, sondern auch eine Propaganda, die versucht, die israelischen Behörden von jeder direkten Verantwortung für diese unbeschreiblichen Grausamkeiten reinzuwaschen. Es wurde eine wahrhafte Kampagne der Geschichtsfälschung aufgegleist, um die wahren Gründe dieses Massakers zu vertuschen und uns die Sichtweise eines kleinen Landes, eines martyrisierten Volkes (die Israelis, die Juden), aufzudrängen, das keine andere Wahl habe, als sich gegen die Barbarei und den Terrorismus zu wehren, von welchen es an seinen Grenzen bedroht sei. Das war der Sinn und Zweck der Gesamtheit der Positionierungen des politischen Personals in Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, den USA – die fleissig von den meisten Medien, einem Rudeljournalismus, verbreitet wurden. In einer gleichen Dynamik wurden jene Positionierungen, welche nicht zu diesem Narrativ „passten“ und im Gegenteil diese heftige Kampagne pro-israelischer Propaganda verurteilten, als antisemitisch bezeichnet.

Und dann konnten wir feststellen, dass, als die Informationssperre zu dieser laufenden Schlachterei im Gazastreifen das Ausmass des Grauens der Massaker und Zerstörungen jeden Tag 24 Stunden am Tag nicht mehr kaschieren konnte und deswegen die Auswirkungen des pro-israelischen Diskurses auf die öffentliche Meinung abgeschwächt wurde, die Beschuldigung des Antisemitismus zum zentralen Pfeiler jenes Diskurses geworden ist, welcher versucht, die mörderischen Handlungen Tsahals zu legitimieren.

Der republikanische Marsch gegen den Antisemitismus am 12. November, der von den staatlichen Behörden organisiert worden ist, ist ein wesentlicher Teil dieser Dynamik.

Die Wertkritik kam zu einer anderen Schlussfolgerung und sie konnte im Übrigen den Sachverhalt nicht auf diese Art und Weise analysieren, wenn man sie anhand des Inhalts eines 2009 von einem ihrer Schutzpatrone, Robert Kurz, geschriebenen und auch heute noch auf Palim-Psao aufgeführten Artikels beurteilt. Der betreffende Artikel, der manchmal als Essay präsentiert wird, mit dem Titel „Die Kindermörder von Gaza. Eine Operation ‚Gegossenes Blei‘ für die empfindsamen Herzen“ ist ursprünglich in der deutschen Zeitschrift Exit! erschienen und der Autor analysiert darin die damalige Situation im Nahen Osten in einem entschieden pro-israelischen Sinne, indem er behauptet, dass der Kampf für die menschliche Emanzipation die Verteidigung des Staates Israel zur Voraussetzung habe.

Der Inhalt dieses Textes ist zutiefst schockierend und ich werde darauf zurückkommen. Aber nicht minder schockierend ist der zynische Ton und sogar der Titel des Artikels: „Gegossenes Blei“ war nämlich der Codename für die israelische Militäroperation im Januar 2009 als Antwort auf Mörser- und Raketenbeschuss durch die Hamas vom Gazastreifen aus in Richtung des israelischen Territoriums. Kurz beginnt seinen Artikel folgendermassen: „Bilder trügen nicht, vor allem die Bilder von Kinderleichen. Tote Kinder, verstümmelte Kinder, verängstigte und weinende Kinder, mit großen Augen aus Verbandsbinden in die Kamera starrende Kinder, inmitten einer klagenden Menge getragene kleine Särge, ihr Leid zum Himmel schreiende Mütter – dieser über die Bildschirme flimmernde Anblick verdichtet sich zu einer ungeheuren Anklage gegen die jüdischen Kindermörder von Gaza. Herodes war ein gutmütiger Kinderfreund dagegen. Die Wahrnehmung des mehrwöchigen Krieges in Gaza zwischen Israel und der Hamas hat sich wie bei keinem früheren Konflikt auf diese scharf gestochene Evidenz zusammengezogen: Die Juden sind Kindermörder. Das ahnt man seit mehr als tausend Jahren; jetzt ist es vor den Augen der Weltöffentlichkeit bewiesen. Nicht zuletzt ein bestimmter Teil der Linken wurde von einem überwältigenden Sentiment gegen den kindermörderischen Staat Israel ergriffen und mitgerissen, das keinen weiteren Gedanken mehr duldet. Bist du für den israelischen Kindermord von Gaza oder dagegen? Na also. Jetzt weiß man, wo die Judenfreunde moralisch stehen […] Und fast schon augenzwinkernd wird festgestellt, dass dieses in den Poren der Bevölkerung von Gaza verschanzte Regime den Krieg der Bilder bereits gewonnen habe.“ [4]

Was in diesen Sätzen und im Rest des Textes besonders schockierend ist, ist die Tatsache, dass der Autor, indem er zu keinem Zeitpunkt seine Empathie für die Opfer des mörderischen israelischen Eindringens in den Gazastreifen ausdrückt, letztendlich die Leichen dieser Kinder genau wie die Hamas instrumentalisiert, wenn letztere sie vor den Kameras vorführt. Dass diese palästinensischen Kinder tatsächlich tot sind, gestorben unter den Bomben und durch die wahllosen Schüsse Tsahals, dass diese Kinder weder Bilder noch abstrakte Konzepte sind und dass nichts und niemand je diese Verluste und dieses unermessliche Leiden wiedergutmachen können wird, das scheint Kurz in seinem Text nicht zu verstehen. Man weiss es: Durch die gesellschaftliche Negierung oder Verzerrung und Instrumentalisierung der Realität und Tiefe des Leidens, welche die Opfer von Gewalt erlitten haben, erleben sie regelmässig eine Retraumatisierung. Was Kurz interessiert – ohne die geringste Anteilnahme oder den geringsten Respekt für die Opfer auszudrücken –, ist die Verurteilung der Hamas, welche diese Leichen im Krieg der Bilder um die öffentliche Meinung benutzt. In seiner überschwänglichen Verurteilung der Hamas foutiert sich Kurz um den heiligen Charakter dieser toten Kinder und den unendlichen Schmerz der Angehörigen.

Das ist ein unzulässiger Fehler und er macht das Lesen des restlichen Textes extrem mühsam. Ein unzulässiger Fehler, der jedoch eben genau angesichts der Positionen dieses radikalen Theoretikers der Wertkritik erklärt werden muss. Und das Schlüsselkonzept hier ist offensichtlich der Begriff Antisemitismus und die Bedeutung, die er für Kurz und nach ihm für die Wertkritik annehmen wird. Machen wir es uns nicht zu einfach und den Fehler, die Wertkritik in ihren „exoterischen“ und „esoterischen“ Aspekt zu unterteilen, die man getrennt voneinander analysieren solle. Die Gesamtheit der Aktivitäten der Wertkritik ist kohärent und einheitlich.

2. Die Position der Wertkritik zum Antisemitismus

Es ist leicht zu verstehen, dass für die Wertkritik die Frage des Antisemitismus direkt mit ihrer Konzeption der Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft verbunden ist (die berühmte „Personalisierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse), sowie mit ihrer eigenen Konzeption des antikapitalistischen Kampfes – und die – man merkt es beim Lesen des immer noch auf dem Blog aufgeführten Artikels von Kurz – auf die Verteidigung der Politik Israels oder aber ihre Teilnahme (freilich „kritisch“) an einer Regierungsdemonstration in Frankreich hinauslaufen kann.

Im Text „Capitalisme, classes et antisémitisme moderne“ schreibt Clément Homs Folgendes: „Der verkürzte Antikapitalismus der Linken ist immer, gestern wie heute, dahingehend potenziell problematisch betreffend Antisemitismus, dass seine Bedeutung oder seine Denkform in ebendiesem antinomischen phänomenalen Verhältnis der Essenz des Kapitalismus wurzelt (die durch die Arbeit konstituierten gesellschaftlichen Verhältnisse – oder, präziser, wenn wir die Terminologie Postones aufgreifen, konstituiert durch gesellschaftlich vermittelnde Funktion der Arbeit, d.h. des ‚abstrakten Aspekts der Arbeit‘, wie es Marx formuliert). Dieser fetischisierte Antikapitalismus setzt das phänomenal Abstrakte der Essenz des Kapitalismus mit dem Geld, der Macht des Geldes, seinen Institutionen (Banken, Steuerparadiesen usw.) und Trägern (den gemeinen Spekulanten, den Tradern, den ‚Banksters‘ usw.) gleich und diese Dimension wird als ‚kapitalistisch‘ betrachtet; während das phänomenal Konkrete (die Arbeit, der Arbeiter mit den schwieligen Händen, die Industrie, die Maschinen, der Taylorismus – bei Lenin oder Gramsci z.B. – usw.) der Essenz des Kapitalismus für den verkürzten Antikapitalismus der Linken (und nicht nur für den traditionellen Marxismus) als ‚ausserhalb des Kapitalismus‘ erscheint, d.h. als natürlich, ontologisch, ‚menschlich‘, transhistorisch; ein Konkretes, das positiv gutgeheissen werden muss gegenüber dem phänomenal Abstrakten. Diese verkürzte Kritik des Kapitalismus, die ihren Fokus auf das Geld (das Abstrakte) richtet, wird schnell, ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, die Finanz (als das fiktive Kapital seine erste historische Rolle als ‚Anhang‘ und dann als ‚Zündungsmotor‘ einer sich selbst unterhaltenden Akkumulation zu spielen beginnt) zu ihrem Gegenstand machen und kann von da an einen gemeinsamen Sockel mit dem verkürzten antikapitalistischen Denken von rechts oder ‚weder rechts noch links‘ teilen (denn die fetischistische Sichtweise ist übergreifend und betrifft alle Klassen und politischen Positionen, als ob sie ein einziges Individuum wären) und die Brücken und Bindeglieder ‚gegen die Finanz‘ (die Formel ‚Mein Feind ist die Finanz!‘ war immer eine typische Aussage der fetischistischen Sichtweise, sie löst notwendigerweise ab und an den Enthusiasmus des verkürzten Antikapitalismus der Linken aus) in den Diskursen und Handlungen sind zu jedem gegebenen Zeitpunkt möglich, sobald die durch den inneren Selbstwiderspruch des Kapitalismus determinierte Krise an der Oberfläche sichtbar wird. Diese auf das Geld, die Finanz, die Spekulation und die Megabanken (den ‚Kasino-Kapitalismus‘, der losgelöst sei von der ‚Realwirtschaft‘: noch ein Gegensatz zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten; eine Antinomie, die man auch nach der Krise 2008 bei jenen – Larrouturou, Jorion, den bestürzten Wirtschaftswissenschaftlern usw., welche, indem sie sie voneinander trennen, die ‚Depotbanken‘ – das Konkrete – und die ‚Handelsbanken‘ – das Abstrakte, einander entgegensetzen wollen, wiederfindet) fokussierte Kritik, wird immer potenziell bereit dazu sein, ihren Gegenstand in der Form des Juden zu biologisieren, indem der Kapitalismus zum Finanzjudentum wird. Das droht auch jeder potenziellen linken wie rechten Opposition gegen die Präsidentschaft Macrons, die sich nicht im Klaren über die Verhältnisse ist und der es an einer konsequenten und reell revolutionären Kritik des Kapitalismus mangelt, eine Kritik, die eine Denkform – und somit eine Praxis – überwinden kann, die in der phänomenalen Antimonie zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten gefangen ist.“ [5]

Roswitha Scholz, eine andere theoretische Schutzpatronin der Wertkritik, ist nicht minder explizit: „Heute wird wieder nach Schuldigen gesucht. Ein (Vulgär-)Marxismus der Personalisierungen macht sich breit, wobei die Kapitalisten, Spekulanten und Investoren das Feindbild sind, was freilich einen strukturellen Antisemitismus beinhaltet.“ [6]

Unterstreichen wir sogleich, dass, während Clément Homs von einem verkürzten Antikapitalismus spricht, der potenziell (das Adverb wird im Auszug dreimal wiederholt) problematisch sei betreffend Antisemitismus, Roswitha Scholz ihrerseits von einem Marxismus der Personalisierungen spricht, der „freilich einen strukturellen Antisemitismus beinhaltet“. In Anbetracht der Gesamtheit der Texte zum Thema handelt es sich sehr wohl für die Wertkritik um eine systemische Gefahr, die unsere Emanzipation vom Kapital bedrohe. Wir haben hier also ein erstes Element (der strukturell mit den antikapitalistischen Kämpfen verbundene Antisemitismus), der ihren Aufruf zur Teilnahme am republikanischen Marsch gegen den Antisemitismus am vergangenen 12. November erklärt [7]. Wie ich es später im Text darlegen werde, stellt jeder Vorschlag für einen antikapitalistischen Kampf, der die Personalisierungen des kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisses verweigert, eine Antinomie dar: Das Kapital ist eine gesellschaftliche Beziehung, ein gesellschaftliches Verhältnis.

Es ist übrigens ziemlich komisch, feststellen zu müssen, dass die Wertkritik, die sich Artikel für Artikel über die Personalisierungen der „orthodoxen Marxisten“ enerviert, sie beschuldigt, sich einer vulgären „verkürzten“ Kritik des Kapitalismus hinzugeben – scheinbar plötzlich „die Antisemiten“ als grosse, uns den Weg in Richtung Emanzipation versperrende Bedrohung identifiziert.

Natürlich hätte es keinen Sinn, zu argumentieren zu versuchen, dass es auf dieser Welt keine Antisemiten gebe, die sich auf einen (vulgären oder auch nicht vulgären) Antikapitalismus und/oder Marxismus berufen. Aber insoweit, als die obigen Zitate von einer politischen Strömung ausgehen, die sich auf die radikale marxistische Kritik beruft, ist es sehr wohl sinnvoll, jene Gedankengänge zu untersuchen, welche die Wertkritik dazu bringen, jeglichen Kampf gegen die Klasse, welche die Interessen der kapitalistischen Klasse verkörpert (oder – als gesellschaftliche Klasse – „personifiziert“), die bürgerliche Klasse also, mit Antisemitismus gleichzusetzen. Denn genau darum geht es: Entweder teilt man die Positionen der Wertkritik hinsichtlich ihres „radikalen“ und vermeintlich emanzipatorischen Antikapitalismus oder man ist zwingend, strukturell, potenziell (!?) ein Antisemit! Wir haben es hier mit einer Logik zu tun, die in allen Punkten jener ähnelt, welche alle Kritiken und Kämpfe gegen die kolonialistische Politik des hebräischen Staates in Palästina mit Antisemitismus gleichsetzt. Es gibt eine offensichtliche Kontinuität zwischen diesen Gedankengängen und den von Robert Kurz in seinem Artikel verteidigten Positionierungen. Dieser Gedankengang kann mit folgender Anordnung zusammengefasst werden: Wer den Standpunkt und die Vorgehensweise der Wertkritik hinsichtlich ihrer vermeintlich radikalen kategorialen Kritik des Kapitalismus nicht teilt, ist strukturell ein verächtlicher Antisemit.

Es gibt mehrere konvergierende konstitutive Elemente des patrimonialen Fundus der Wertkritik, die dazu führen, dass sie unfähig ist, den Antisemitismus und seine Instrumentalisierung kritisch zu betrachten, ein kritischer Blick, der sehr wohl notwendig ist.

Ein erstes Element diesbezüglich ist die Tatsache, dass für die Wertkritik die Frage der politischen Macht global ungedacht bleibt. Das ist ein Resultat ihrer Ablehnung und Nichtanerkennung der Klassenverhältnisse als konstitutives und determinierendes Element im kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnis. Oder eher, die Wertkritik anerkennt bis zu einem gewissen Grad die Existenz der Klassen, doch sie ist unfähig, sie anders als mit einer sozialdemokratischen Brille zu betrachten und zu analysieren, d.h. von einem rein wirtschaftlichen und soziologischen und somit politischen Standpunkt aus. Ein politischer Standpunkt im Sinne einer Erhaltung der alten Welt (die historische Rolle der Sozialdemokratie) mithilfe der Politik in totalem Gegensatz zu jeglicher radikalen und subversiven Perspektive. Historisch bestand das sozialdemokratische Projekt immer darin, in Richtung einer harmonischen Integration der Ausgebeuteten in die Gesellschaft zu handeln, was unter den Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung eine total antinomische Widersinnigkeit darstellt!

3. Die Position der Wertkritik zu den Klassen

Die Besonderheit der Wertkritik besteht in dem – und hier beziehe ich mich auf das, was sie systematisch in all ihren Positionsbezügen zeigt –, was sie als Bruch mit dem „dogmatischen Marxismus“, dem „Marxismus der Arbeiterbewegung“ oder dem „traditionellen Marxismus“ betrachtet, nämlich ihrem Bestehen auf die Notwendigkeit einer Kritik der „kategorialen gesellschaftlichen Formen“, der gesellschaftlichen Beziehungen im Kapitalismus wie die Kategorien Arbeit, Geld, Wert und Ware. Die Wertkritik behauptet, dass dieser für sich in Anspruch genommene Ansatz jenem Teil des Marxschen Werks entspreche, welche sie „den esoterischen Marx“ nennt, im Gegensatz zu einem „exoterischen Marx“, der zum dogmatischen Marxismus gehöre und worauf sich dieser beziehe.

In einem im Januar 2016 veröffentlichten Interview erklärt Clément Homs: „Man kann den Kapitalismus nach 1980 nicht mehr beschreiben, indem man die phänomenalen Formen jener Konfiguration benutzt, welche der Kapitalismus zur Zeit des selbstunterhaltenen Akkumulationsregime der Wertproduktion durch die Ausbeutung der lebendigen Arbeit annahm. Eine Welt, in welcher das Proletariat und seine Ausbeutung in den fordistischen Fabriken eine zentrale Stellung einnahmen [von mir unterstrichen]. Hinsichtlich dieses Punktes erhält die methodologische Unterscheidung zwischen dem ‚esoterischen‘ und dem ‚exoterischen‘ Marx all ihre Bedeutung. Häufig liegt hier eine Quelle des Unverständnisses für die Wertkritik, wenn man glaubt, sie spreche nicht mehr von Ausbeutung. Natürlich gibt es im ‚umgekehrten Kapitalismus‘ immer noch die Ausbeutung der Mehrarbeit und somit immer noch Klassenkämpfe, doch man kann aufzeigen, dass diese Massenarbeit in China, Indien, Brasilien usw. keineswegs eine derart hohe Quantität an Wert und Mehrwert [von mir unterstrichen] repräsentiert, wie gewisse traditionelle Marxisten glauben möchten. Strukturell hat das neue Ausbeutungsregime ab den 1980er Jahren überhaupt keinen selbstunterhaltenden Charakter mehr, die immer noch bestehende Ausbeutung ist nicht mehr der zentrale strukturelle Punkt des neuen Akkumulationsregimes [von mir unterstrichen].“ [8]

Im ersten Teil dieses gleichen Interviews [9], das im Mai 2015 erschienen ist, behauptet Clément Homs zudem: „Der Fetischismus beruht auf einer reellen Umkehrung (und nicht einer einfachen Mystifizierung) des Konkreten und Abstrakten, in jenem Sinne, dass in der kapitalistischen Gesellschaft alles Konkrete (und die Klassen) zur von der Realität gewordenen Abstraktion abgeleiteten phänomenalen Form wird (Realabstraktionen). Genau in diesem Sinne sprach Marx vom Kapital als ‚automatisches Subjekt‘ und qualifizierte den Kapitalismus als historische Form des Fetischismus. Eine gesellschaftliche Welt, in welcher die Menschen nicht den Produktionsprozess beherrschen, sondern von ihm beherrscht sind. Noch bevor der Kapitalismus eine Klassengesellschaft ist, ist er in seinem Kern eine Gesellschaft, in welcher die modernen Subjekte reell von ihren eigenen gesellschaftlichen Beziehungen beherrscht werden, statt dass sie sie bewusst organisieren. Die profitierende [10] und nicht die ‚herrschende‘ Klasse (nehmen wir uns in acht vor den äusseren Erscheinungen) war immer nur die funktionale Elite eines solchen fetischistischen kapitalistischen Systems (die ‚Beamten‘ des Kapitals, wie es Marx formuliert) in jenem Sinne, dass die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse für diese bürgerliche Klasse nicht transparenter, selbstbestimmter oder bewusster sind als für die von der Ausbeutung der Mehrarbeit zerriebene Klasse – dafür war das traditionelle marxistische Verständnis des Fetischismus immer blind. Die an der Oberfläche durch den Staat und das Lohnverhältnis vermittelte ‚Klassenherrschaft‘ existiert sehr wohl in der kapitalistischen Gesellschaft und sie ist sehr greifbar, doch sie ist eine beherrschte Herrschaft, die nicht ihre eigene Grundlage ist, in jenem Sinne, dass sie nur innerhalb der viel umfassenderen, prägnanteren und unbewussteren anonymen und unpersönlichen Herrschaftsstruktur existiert, des Fetischismus. Die staatlichen Strukturen sind kein äusserer Punkt gegenüber der fetischistischen Konstitution, von welcher ausgehend die kapitalistische Gesellschaft ‚gesteuert‘ würde. Der Staat ist die phänomenale institutionelle Form, welche die Sphäre des Politischen in einer modernen, durch das dialektische Verhältnis der Wertabspaltung konstituierten Gesellschaft annimmt.“

Die Wertkritik schreibt sich also selbst einen kritischen, radikalen und kategorialen Ansatz dieser Schlüsselkonzepte wie Wert, abstrakte Arbeit, Geld, Ware usw. zu… Mein eigener Anspruch in diesem Text ist es, zu argumentieren, dass die Kritiken der Wertkritik des Werts, der abstrakten Arbeit, der Ware überhaupt keine radikalen kritischen Beiträge im Hinblick auf die Emanzipation der Menschheit vom Joch der uns beherrschenden Abstraktionen darstellen. Sie sind es nicht und können es nicht sein. Die Wertkritik bleibt in ihren vermeintlich kategorialen Kritiken in einem ökonomistischen Ansatz und einer auf den Westen zentrierten Sichtweise gefangen. Ein solche auf den Westen zentrierte Sichtweise lässt erkennen (und ist gewissermassen der Beleg dafür), dass die von der Wertkritik definierten Schlüsselkonzepte in der bürgerlichen politischen Ökonomie verfangen bleiben. Gewiss, sie besteht bereitwillig auf der Notwendigkeit, das kapitalistische gesellschaftliche Verhältnis als „totale soziale Tatsache“ zu betrachten. Doch das bedeutet – und muss bedeuten, falls die Worte noch einen Sinn haben –, dass dieses totale kapitalistische gesellschaftliche Verhältnis eine Realität abdeckt, die sich nicht nur in allen Aspekten unserer Leben ausdrückt, sondern die auch die Lebens- und Überlebensbedingungen der Gesamtheit der Bevölkerungen des Planeten determiniert. Überall auf der Erde durchdringt die Herrschaft des Werts, die Warenherrschaft [11] jedes Quäntchen und alle Facetten unserer Existenzen, unter all ihren Gesichtspunkten, physisch-biologisch, ökonomisch, psychisch, zwischenmenschlich, kulturell, symbolisch, spirituell… Es muss die Frage aufgeworfen werden, was diese „totale soziale Tatsache“ für die Wertkritik bedeutet und wie sie den Gebrauch dieses Begriffs rechtfertigt, wenn sie systematisch immer von den gleichen kapitalistischen Ländern spricht, jenen „des Zentrums“ und jenen „der Peripherie“, wo die „Barbarei der Kriege und Hungersnöte“ die Bevölkerungen heimsuche! Bei der Wertkritik wird ein totalisierendes Verständnis der Wirklichkeit des kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisses, des Kapitals als „totale soziale Tatsache“, stets durch ihre auf den Westen zentrierte Präsentation des Kapitals widerlegt: Ihre Erfassung des Besonderen verweist nicht auf die Totalität, sondern ersetzt sie! Die Wertkritik konzipiert das kapitalistische gesellschaftliche Verhältnis als eines, dessen schlagendes Herz im Westen sei, während man sich sonst überall in „der Peripherie“ des Kapitals befände. Ihre Bezugspunkte befinden sich systematisch in der „entwickelten“ Welt (das sind ihre eigenen Begriffe, manchmal mit, manchmal ohne Anführungs- und Schlusszeichen) und ihre Analysen konzentrieren sich hauptsächlich auf die Regionen, wo man gigantische Akkumulationen von Reichtümern und Waren erkennen kann. Überall sonst, in „den Peripherien“, gebe es nur „Unterentwicklung“, oder – um einen bei der Wertkritik beliebten Begriff aufzugreifen – „nachholende Modernisierungen“, wie man es in diesem Auszug lesen kann: „Die Länder der kapitalistischen Peripherie (im Osten und Süden des kapitalistischen Westens, d.h. in der sowjetischen Zweiten und der Dritten Welt) versuchen jene dem Kapitalismus interne Diskrepanz wieder aufzuholen, welche durch seine eigene Entwicklung entstanden ist. Die ‚nachholende Modernisierung‘, welche der Osten und die Dritte Welt im Verlauf des 20. Jahrhunderts erstrebten, ist also für die westlichen kapitalistischen Zentren bloss ihre eigene Vergangenheit. Es ist ein Phänomen, das es den Peripherien des Kapitalismus erlaubt, in den globalen Horizont des Kapitalismus einzutreten.“ [12]

Auch wenn es den Anhängern der Wertkritik nicht gefallen mag, der Begriff „Dritte Welt“ gehört vollständig den bürgerlichen Ideologen und Ökonomen, und offensichtlich hielten sie es nicht für nützlich, den Begriff einer radikalen kategorialen Kritik zu unterziehen. Die kritischen Konzepte der Wertkritik haben hier viel mehr mit Samir Amin und seinen Wirrungen über „die unterentwickelte Peripherie“ [13] als mit Karl Marx zu tun!

Ich will hier natürlich nicht behaupten, dass es keine Diskrepanzen oder Unterschiede in der Art und Weise gebe, wie sich der Kapitalismus in jeder besonderen geographischen Zone manifestiert. Aber was ich hier entschieden unterstreichen will, ist die Tatsache, dass diese verschiedenen Manifestierungen, diese unterschiedlichen Konkretisierungen, durch welche sich der Wert überall auf dem Planeten durchsetzt und der ganzen Menschheit auferlegt, eben gerade den Ausdruck des Inbegriffs des Werts und der Herrschaft seiner Gesetze selbst darstellt [14]. In diesem Zusammenhang von Entwicklungsunterschieden (bezüglich der Entwicklung wovon, eine kapitalistische Entwicklung, eine zivilisatorische Entwicklung?) zu sprechen, bedeutet nichts anderes als ein untragbares Zugeständnis an die politische Ökonomie. Man räsoniert also bereitwillig in Begriffen des Tauschwerts, in Mengenbegriffen des Werts, statt ganz einfach in jenen des Werts, des Werts ohne Zusatz, in Begriffen der Wirtschaftswissenschaften, statt in Konzepten, welche diese bürgerliche Wissenschaft subvertieren. Das läuft somit auf eine Apologie des Kapitalismus und auf eine Hervorhebung als universell eines besonderen europäisch-westlichen Standpunkts hinaus, mit allen analytischen Verzerrungen, die sich zwingend daraus ergeben.

Allzu oft beschränken sich die Kritiken der kapitalistischen Gesellschaft darauf, eine Verwertungsbewegung des Kapitals (der Kapitale) zu analysieren, während die Entwertungsbewegung aussen vor gelassen wird oder ein Schattendasein fristet, um nur erwähnt zu werden, wenn „das Kapital in eine Krise eintritt“ oder es „auf seine innere Grenze stösst“ (Formel der Wertkritik). Eine solche Sichtweise, in welcher das Kapital nur mit einem vermeintlich „positiven“ Pol gleichgesetzt wird, stösst leicht auf Zustimmung bei den meisten Ökonomen, die sich dann anstrengen, Gegenmittel gegen diese Krise zu finden, die sie als „Wirtschafts-“ oder aber „Banken-“ oder „Finanzkrise“ bezeichnen werden. Gemäss dieser Konzeption wird der Kapitalismus als Synonym für die Akkumulation von Reichtümern (das, was die kapitalistische Gesellschaft als Reichtümer versteht, d.h. eine immer grösser werdende Akkumulation von Warenwerten) verstanden und präsentiert. Und dort, wo eine solche Akkumulation von Waren nicht existiert, wo Armut und Trostlosigkeit vorherrschen, behauptet diese Sichtweise, das seien nur ausserkapitalistische Regionen, die ausserhalb der Entwicklung des Kapitals situiert seien. Eine solche Konzeption übernimmt die Version der Apologeten des Kapitals, d.h. schlussendlich die Repräsentation des Kapitals von sich selbst!

Armut und Trostlosigkeit sind nicht „Auswirkungen“ oder äussere Konsequenzen der kapitalistischen Entwicklung, sondern stellen das Wesen dieser Entwicklung selbst dar, genau wie die immer grösser werdende Akkumulation von Waren/Werten. Armut und Trostlosigkeit sind der Inbegriff der totalitären Herrschaft des Werts, genau wie Reichtum und Überfluss. Diese Dyaden, diese gepaarten Elemente (Reichtum/Armut, Überfluss/Trostlosigkeit) drücken die planetare Herrschaft des Wertgesetzes über unsere Leben aus.

Es ist also wesentlich, „die Zwänge des Werts“ als eine permanente doppelte Bewegung zu verstehen, d.h. eine Bewegung der Verwertung und gleichzeitig eine Bewegung der Entwertung. Anders formuliert, handelt es sich um ein und dieselbe Bewegung der Verwertung/Entwertung. Sie können nicht anders als in ihrer Verschränkung zusammen funktionieren und existieren. Das Wertgesetz impliziert eine Entwertung, die mit der Verwertung der kapitalistischen Güter einhergeht: Jede neue kapitalistische Investition mit dem Ziel einer Produktivitätssteigerung in einem Sektor der Produktion führt strukturell zu einer kapitalistischen Entwertung der Güter der Konkurrenten in diesem gleichen Sektor, wo eine solche Steigerung nicht stattfindet.

Man kann nur dann Gesetze, die der ökonomischen Sphäre eigen sind, suchen und finden, wenn man diese Sphäre als getrennt vom gesellschaftlichen Leben betrachtet. Doch der Kapitalismus ist dieses gesellschaftliche Verhältnis.

Es ist offensichtlich, dass für die Wertkritik in den von uns reproduzierten Zitaten („Les vases vides…“), sowie in der Gesamtheit ihrer Texte

1. sich das Proletariat in den Fabriken, Werkstätten und Büros befindet (siehe „die Welt vor 1980, in welcher das Proletariat und seine Ausbeutung in den fordistischen Fabriken eine zentrale Stellung einnahmen“);

2. die Ausbeutung der Proletarier während ihrer Arbeitszeit geschieht;

3. „die Klassenkämpfe“ sich aus der Ausbeutung der Mehrarbeit ergeben.

Es ist eine Sichtweise, wie wir sie auf gleiche Art und Weise sowohl bei den Ökonomen als auch bei den Gewerkschaftern wiederfinden, übrigens nicht zwingend bei den „marxistischen“! Diese Konzeptionen sind die Grundlage allen historischen sozialdemokratischen Reformismus.

Eine etwas gründlichere Lektüre der Texte der Wertkritik erlaubt es darüber hinaus und einfach, festzustellen, dass für die Wertkritik letztendlich

4. das Kapital sich durch eine endlose Akkumulation von Reichtümern definiert (bis zum Moment, wo es auf seine „innere Grenze“ trifft);

5. der Klassenkampf und die Kämpfe des Proletariats im Besonderen sich seit den Anfängen des Kapitalismus um die Verteilung der produzierten Reichtümer drehten [15]; die berühmte linke Losung (gemäss der Wertkritik) „von den Reichen nehmen, um es den Armen zu geben“ und der berühmte „Kampf um die Aufteilung der Kuchenteile“;

6. es keinen Grund gibt, einen anderen Inhalt der Kämpfe des globalen Proletariats wahrzunehmen oder einfach nur zu suchen, als den im Punkt 5 erwähnten.

7. Was die Wertkritik vorschlägt – hier gebe ich auf. Ich könnte nicht sagen, was die Wertkritik als Perspektive vorschlägt, um gegen das Reich einer „beherrschten Herrschaft“ zu kämpfen.

Das Wertgesetz (Verwertung/Entwertung) wirkt weltweit und unterwirft die gesamte Menschheit seinen Zwängen. Die Schriften der Wertkritik und die konzeptuellen Objekte, mit denen sie von Artikel zu Artikel herumhantiert, zeigen zur Genüge, dass sie die tiefe Grundbedeutung dieses Gesetzes nicht versteht. Und sie kann diese Bedeutung schlichtweg nicht verstehen, solange sie nicht die von ihr verteidigte dogmatische Position hinsichtlich der Realität der Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft verwirft. Wie kann man die Herrschaft des Werts konzipieren, ohne anzuerkennen, dass diese Herrschaft, welche die gesamte Menschheit unterwirft, die Ausbeutung eines globalen Proletariats durch eine – ebenfalls globale – bürgerliche Klasse erfordert und dass die eigenen Interessen und die eigene Sichtweise der Wirklichkeit letzterer objektiv Punkt für Punkt der Verteidigung der Interessen des Kapitals entsprechen? Die Existenz einer reellen Gemeinschaft von Interessen, welche die verschiedenen bürgerlichen Fraktionen über die Grenzen und ihren besonderen konkurrierenden Interessen hinweg vereint, erlaubt es, diese bürgerliche Klasse auf weltweiter Ebene zu konzipieren, als eine globale Klasse. Das beweist die Ungültigkeit jeglicher auf die Dritte Welt bezogene Analyse.

Die Wertkritik hebt Artikel für Artikel ausdrücklich hervor, dass die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse unter dem Kapitalismus nur einfache „Funktionen des globalen gesellschaftlichen Fetischverhältnisses“ sind. Und sie fügt hinzu, dass die „orthodoxen“ Marxisten, da sie diese Behauptung nicht anerkennen, unweigerlich den Fehler begehen, diese Verhältnisse als subjektive Verhältnisse des Willens zu betrachten! Und daher komme ihre Neigung, „strukturell“ in den Antisemitismus abzugleiten! Mit ihrem Begriff der „beherrschten Herrschaft“, den die Wertkritik klar als ein absolutes Verhältnis der Unterordnung der „profitierende[n] und nicht d[er] ‚herrschende[n]‘ Klasse (nehmen wir uns in acht vor den äusseren Erscheinungen)“ unter das Diktat des Werts und des strukturellen Fetischismus präsentiert, ist sie absolut unfähig, die systematischen Massaker und Einsperrungen all jener und jenen zu erklären, welche gegen die Ausbeutung und die Unterdrückung kämpfen, ausser indem sie diese Fragen kleinredet [16]. So ist ihre Formulierung, dass „die Einführung einer radikal neuen gesellschaftlichen Lebensform – [was] nicht ohne Abrechnungen und einen Widerstand mit Waffengewalt gegen die profitierende Klasse (unser alter Feind, die Bourgeoisie) geschehen kann“ ein Archivstück (siehe FN 10). Ach ja, und dann gibt es da noch diese Bezugnahme auf eine „rassistische portugiesische Abwartin“ [17], die nicht minder köstlich ist! Oder wie man ein Konzept unbemerkt durch das Fenster wieder hineinkommen lassen kann, das man zuvor durch die grosse Türe herausgebeten hatte. Genau da drückt der Schuh. Genau hier entzieht sich „die Frage der transzendentalen Empirizität des ‚esoterischen‘ Marx“ komplett meinem Verständnis und werfen die theoretischen Verrenkungen der Wertkritik für mein Begriffsvermögen viel zu komplizierte Probleme auf (Anspielung auf den Text von Benoît Bohy-Bunel, siehe FN 18). Für die Wertkritik sind wir alle unterschiedslos von diesem automatischen Subjekt namens abstrakter Wert beherrscht. Schluss also mit Klassenkampf, es gibt keine Klassen (mehr). Dennoch – und gleichzeitig – werden „Abrechnungen“ und ein „Widerstand mit Waffengewalt gegen die profitierende und nicht ‚herrschende‘ Klasse (unser alter Feind, die Bourgeoisie)“ nötig sein, so Clément Homs. Sehen wir über die „Abrechnungen“ hinweg, denn man kann sich schwer vorstellen, was ein solcher Ausdruck hinsichtlich gesellschaftlicher Emanzipation bedeuten könnte. Bleibt dieser „Widerstand mit Waffengewalt“ – welche konkreten Formen wird er annehmen, mit welchen Kräften, wer wird wem gegenüberstehen? Wie wird er organisiert werden und aufgrund welcher Kriterien? Wer wird Teil dieser „profitierende[n] Klasse“ sein und vor allem, wer wird darüber bestimmen? Oder wird es sich um einen Bürgerkrieg handeln?

Die Realität der Klassenverhältnisse, welche sowohl die Gesellschaft als auch den Wert strukturieren – denn diese beiden Begriffe sind derart ineinander verschachtelt, wie es das Herz, die Lunge, der Blutkreislauf und das Hirn im menschlichen Körper sind und wovon nur die wissenschaftsgläubige westliche Medizin eine reduktionistische Konzeption hat –, nicht zu begreifen, ist gleichbedeutend mit dem fatalen Rückfall in die dualistischen Ansätze, welche in und mit der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschen: Genau das ist – auf offene Art und Weise – am 12. November 2023 mit der Wertkritik geschehen.

Die bürgerliche Klasse hat freilich keine andere Wahl, als dem Diktat des Werts zu gehorchen, und von diesem Standpunkt aus betrachtet, muss man tatsächlich bestätigen, dass sie in ihren Handlungen und ihrem Wesen vom Wert beherrscht ist. In diesem Sinne muss man auch betonen, dass es sich um eine globale bürgerliche Klasse handelt, wie die globale Herrschaft des Werts, und dass deren gesellschaftliches und historisches Projekt sich im Gegensatz zu den vitalen Bedürfnissen der durch die kapitalistische Produktionsweise und den Wert unterdrückten und ausgebeuteten Klasse definiert. Diese Klasse kann insoweit keinesfalls statisch als Addition einer gewissen Anzahl physischer Personen definiert werden, als die Zwänge des Werts über solche Betrachtungen hinausgehen, und es ist alles andere als aussergewöhnlich, dass einflussreiche Leute innerhalb dieser bürgerlichen Klasse ausgegrenzt, oder aber, dass Leute aus „dem Volk“ hinzugewählt werden (Lech Walesa in Polen, Lula da Silva in Brasilien – die Liste ist lang), wenn sie die Gesellschaft erfolgreicher befrieden können. Es geht darum, zu beobachten und zu verstehen, wie diese unpersönliche bürgerliche Klasse organisch im Kern des Wertgesetzes, im Kern seiner Zwänge lebt und handelt. All diese Handlungen finden ihre Daseinsberechtigung und Erklärung in der Notwendigkeit für den Wert, die Ausbeutung der Proletarier und die Mehrwertextraktion unaufhörlich zu intensivieren. Dieses letztgenannte Element ohne eine bürgerliche Klasse zu denken, ist absolut unsinnig und absurd! Einzig und allein dieses Konzept der Klasse erlaubt es, nicht der Personalisierung der Herrschaftsverhältnisse zu verfallen. Es ist sehr wohl eine Klasse, welche die Herrschaft des abstrakten Werts und der Arbeit über die Totalität der kapitalistischen Gesellschaft und unsere Leben als Proletarier verkörpert und verteidigt.

Die Proletarier machen die Erfahrung, dass sie enteignet von jeglicher Kontrolle über ihre Existenzen sind, d.h. enteignet von den Mitteln zu ihrem Lebensunterhalt und somit ihren Aktivitäten; diese unmenschliche Realität konditioniert sie dazu, permanent im Widerspruch zu den Diktaten des Werts und seinen unerbittlichen Zwängen zu sein. Das Proletariat verkörpert, und es ist gar seine Definition, durch seine Situation der totalen und absoluten Enteignung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess im Kern des kapitalistischen Systems – d.h. weltweit – die radikale Negation der Unmenschlichkeit der modernen Gesellschaft. Für die „orthodoxen Marxismen“ (um diesen Begriff der Wertkritik aufzugreifen) ist diese radikale Negation total unzugänglich, denn ihre Positionen haben nicht die Zerstörung des Wertgesetzes oder die Beseitigung dieser Warenwelt und der ihr zugrundeliegenden abstrakten Arbeit zum Ziel, wie es die Wertkritik durchaus korrekt formuliert. Aber für die Wertkritik ist diese radikale Negation ebenfalls insoweit ausser Reichweite, als sie sich selbst in einer Parallelvision zu jener des „orthodoxen Marxismus“ eingeschlossen hat, sie reduziert dieses globale Proletariat, um es jeglichen subversiven Inhalts zu berauben (und es in eine sterbliche Hülle zu verwandeln), auf eine seiner phänomenologischen Formen („die Arbeiter“, in den „produktiven“ Sektoren), damit es somit zu nichts anderem wird, als einer verkäuflichen Hilfskraft auf dem Markt der Verkäufer und Käufer der Arbeitskraft.

4. Der Anti-Antisemitismus der Wertkritik

Die Formulierung einer solchen Kritik gegenüber der Wertkritik (und ihres dumpfen Anti-Antisemitismus) ergibt sich insoweit nicht von selbst, als sie sich stets mit einer vermeintlichen theoretischen Überlegenheit und einer offensichtlichen Herablassung gegenüber als „dogmatisch marxistisch“ qualifizierten politischen Strömungen brüstet [18]. So schafft sie es, nie weitergehende Erklärungen liefern zu müssen, wenn man sie danach fragt, zu präzisieren, wie ein solcher revolutionärer Prozess entstehen könnte, ausgehend von welchen konkreten Situationen, mit welchen Motivationen, welchen Kräften. Sie wird nicht darauf antworten [19] oder mit Kurz festhalten, dass all das auf die Barbarei herauslaufen werde, ausser wenn die Menschheit das Bewusstsein entwickelt, dass sie sich von der Herrschaft des Werts, der Ware und der abstrakten Arbeit emanzipieren muss. Und des Antisemitismus müsste man noch hinzufügen, wenn man wirklich im semantischen und geistigen Universum der Wertkritik bleiben will. Aber wie funktioniert also dieser Vorwurf des Antisemitismus, dieser Anti-Antisemitismus, der versucht, jene Aktivisten, welche diese Perspektive eines historischen Kampfes gegen die bürgerliche Klasse und ihre Welt verteidigen, zu ersticken und letztendlich zu lähmen, auf welchen Grundlagen beruht er? Auf welche Art und Weise droht die Wertkritik mit einer ehrenrührigen Anschuldigung gegen ihre Kritiker?

Wie schon erwähnt, funktioniert die Anschuldigung des Antisemitismus bei der Wertkritik als Mahnung, die auf jene antikapitalistischen Kritiken zielt, welche sich nicht mit ihrer decken. Ein perverser Ansatz und das umso mehr, wenn er wie meistens mit einer Anschuldigung des „Populismus“ einhergeht, einem Verdacht jenes „Populismus“, von dem die Wertkritik behauptet, er sei ein „integraler Bestandteil der Kritik der kapitalistischen Sozialisierung und ihrer Krisenideologien“. Eine Lektüre der meisten Artikel zum „verkürzten Antikapitalismus“ (ein von ihr systematisch benutzter Begriff), jener, welcher die verschiedenen von ihr durch ihre „kategorialen Kritiken“ formulierten Postulate nicht übernimmt, zeigt, dass ihre Argumente letztendlich den Leser auf logischer und semantischer Ebene in die Zange nehmen, ihre beiden Hebelarme sind die Anschuldigungen des Antisemitismus und Populismus. Es handelt sich hier nicht mehr so sehr um eine Frage theoretischer Meinungsverschiedenheiten mit anderen kritischen Theorien, sondern in diesem präzisen Fall um eine Praxis, die ein unantastbares Wissen mobilisiert, um sich besser als besondere politische Strömung herauszuheben und jeden davon abweichenden Ansatz abzutun.

Diese Feststellung (bezüglich der Anschuldigung des Populismus) wird auch von einigen Teilnehmern der ersten Stunde der Vereinigung Crise & Critique geteilt, sie brachten im September 2023 einen Text in Umlauf, in welchem sie unter anderem schrieben, dass „Crise et Critique mit Exit eine wahrhafte Obsession für den ‚Populismus‘ teilt. Die Kritik der populistischen Tendenzen, und besonders des ‚Querfront-Populismus‘, war immer ein wichtiges Element der Wertkritik und einer der zentralen Kontrastpunkte mit der ‚Linken‘. Doch sowohl bei Exit als auch bei Crise et Critique ist der Kampf gegen den Populismus konterproduktiv geworden, denn alle ausser man selbst sind ‚populistisch‘ (und stehen somit der äusseren Rechten nahe) und man sieht zum Beispiel Populismus in der schlichten Behauptung, dass die Pharmaindustrie an der Pandemie viel verdient hat! Auch die Kritik des Betons ist verdächtig, genau wie das Misstrauen gegenüber dem Plastik, denn das bedeute, ‚das Konkrete gegen das Abstrakte auszuspielen‘. Wer das tut, ist letztendlich nicht weit davon entfernt, ein Nazi zu sein, ohne dass er es weiss! Die Kritik der anonymen und unpersönlichen Strukturen der Gesellschaft des Werts widerspricht nicht notwendigerweise der Feststellung, dass es auch Verantwortlichkeiten von gewissen Individuen und Gruppen gibt – ausser für Puristen und Priester, die darin nur ‚personalisierende Kritik‘ sehen. Das erklärt, weshalb Crise et Critique während diesem aussergewöhnlichen Jahr in Frankreich so stumm geblieben ist – jegliche Form der Praxis ist suspekt und inmitten einer Million Demonstranten könnte sich stets ein Populist verstecken. Weder die Demonstrationen gegen die Rentenreform noch die ‚Soulèvements de la terre‘ sind erwähnt worden, nicht einmal in der internen Korrespondenz […]“ Dieser kurze Text, der von heutigen Ex-Mitgliedern der Wertkritik verfasst worden ist, endete mit folgendem Satz: „Deshalb haben wir uns dazu entschieden, die Schmach noch schmachvoller zu machen, indem wir sie publizieren (Marx), und diese Betrachtungen öffentlich zu machen – zuerst hier, dann darüber hinaus.“ [20]

Mit solchen dogmatischen Verblendungen der Wertkritik ist es nicht überraschend, dass bei ihr die Gleichsetzung der Kritik des Zionismus mit einer Form des Antisemitismus einen zentralen Platz in der Anordnung der Ideen in einer immer gleichen, unveränderlichen Konfiguration einnimmt. Semantische und logische Gewissheiten stützen ein Narrativ, das letztendlich erwiesene Tatsachen wie eine nationale Politik der Unterdrückung gegenüber Millionen von Palästinensern in Palästina seit Jahrzehnten vernebelt.

Diese Anschuldigung des Antisemitismus basiert schlicht und einfach auf einer intellektuellen Gaunerei.

Ich beziehe mich hier nicht auf die besondere oder nicht besondere Situation einer sich als jüdisch identifizierenden Bevölkerung, sondern auf das Konzept des „Antisemitismus“ selbst, auf die Art und Weise, wie dieser Begriff konstruiert und in ideologischen Konfrontationen, von denen wir hier nicht so weit gehen werden, sie als theoretische Debatten zu bezeichnen, benutzt wird.

Heute jemanden als Terroristen, Verschwörungstheoretiker, Konspirationisten, Islamisten zu stigmatisieren, bedeutet, ihm ohne Umschweife eine Zielscheibe auf den Rücken zu kleben. Das Gleiche gilt für die ehrenrührige Etikette „Antisemit“. Vor dem Tribunal des Anstands und der ehrenhaften Gesinnung ist diese Anschuldigung gleichbedeutend mit einer Verurteilung. In Frankreich ist seit dem Gayssot-Gesetz [21] eine Gedankenpolizei zur Kontrolle der Affekte der Bürger und Durchsetzung einer Art staatlicher und moralischer Zügelung unserer Emotionen institutionalisiert worden. Das Resultat solch repressiver Dispositive ist offensichtlich: eine Verinnerlichung der diese Affekte begleitenden und eine Mischung aus Scham und einem Gefühl von Ohnmacht und Frustration auslösenden Triebe. Da die Benennung dieses „Sündenbocks“ und der Angriff auf ihn stattfindet, während der wahre Verantwortliche oder die wahren Verantwortlichen der Frustrationen und des empfundenen Leids nicht identifiziert und/oder bekämpft werden kann/können, führt die Einführung eines Gedankenverbrechens und die Kriminalisierung seines Ausdrucks zu einer Verstärkung genau jener Frustrationen, welche anfänglich zu diesen Gedanken geführt haben! Die juristische Bestrafung und die Polizeirepression gegen den „Judenhass“ und allgemeiner gegen die Rassismen sind weit davon entfernt, eine Antwort dagegen zu liefern, und tun letztendlich nicht anderes, als sie zu verstärken.

Knirpse mit maghrebinischem Hintergrund aus den Vorstädten, die ein Hakenkreuz auf eine Mauer neben einem Davidstern sprayen, des Antisemitismus zu bezichtigen, stellt im besten Falle eine Torheit als Antwort auf eine andere Torheit dar. Aber viel häufiger handelt es sich um ein politisches Kalkül, das zum Ziel hat, das Gefühl der Revolte und der Solidarität, das diese Knirpse für das Geschehen in Palästina, ihr imaginäres Land, diese für unser Verhältnis zur Welt so wesentliche Vorstellungswelt, empfinden können, zu beseitigen. Und dieses Geschehen in Palästina findet ein derart deutliches Echo in der Situation der Ausgrenzung und des polizeilichen und institutionellen Rassismus, die sie hier in „ihren Vorstädten“ erdulden müssen. Wie dumm muss man sein, um das nicht zu verstehen [22]!

Was der Anschuldigung des Antisemitismus zugrunde liegt, ist dieser „Gedankengang“, wonach der als „Antisemit“ Bezeichnete diese Abscheulichkeit der massiven Vernichtung der Juden Europas durch das Hitler-Regime befürwortet. Und da diese Abscheulichkeit auf jeden Fall nur absolut zu verurteilen ist, muss die des Antisemitismus bezichtigte Person infolgedessen verurteilt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden! Die Tatsache, dass eine solche moralische und strafrechtliche Verurteilung von einem sozio-politischen System ausgeht, das seine Energie aus der Unterdrückung und Ausbeutung von Bevölkerungen (auch jüdischen), der Repression jeglichen Protests, der direkten oder delegierten Folter, dem Waffenhandel, dem Kolonialismus, dem Staatsterrorismus und der Zerstörung alles Lebenden auf der Erde zu Handelszwecken bezieht – das scheint die Fanatiker des Anti-Antisemitismus nicht weiter zu stören.

Es ist unschwer zu erkennen, dass in Frankreich die Meister des Anti-Antisemitismus wie der CRIF, die UEJF, der B’nai B’rith Frankreich, die Vereinigung Frankreich-Israel [23] – und die, wie Kurz und nach ihm die Wertkritik, eine bedingungslose Unterstützung des jüdischen Staates im Namen dieses Anti-Antisemitismus befürworten, in Bezug auf Israel in einer Art Weltfremdheit gefangen sind, sie verteidigen das Land, indem sie es als von diktatorischen und blutrünstigen arabischen Regimen belagerte einzige Demokratie präsentieren. Die Tatsache, dass Israel regelmässig aussergerichtliche Hinrichtungen durchführt, Hunderte palästinensische Kinder neben Tausenden anderen politischen Gefangenen ohne Prozess und gar ohne Anklage in seinen Strafkolonien dahinvegetieren (sie seien überhaupt nicht im Gefängnis, sondern nur in „Administrativhaft“!), die Folter dort gängige Praxis gegen palästinensische Gefangene ist und sie daran sterben [24], genau wie es von der Hamas und der PLO sowie von allen arabischen Regimes in der Region gegen ihre Gegner praktiziert wird, Tsahal Gaza in ein Ruinenfeld verwandelt, Phosphorbomben gegen Wohngebiete einsetzt und massiv massakriert – all das stört diese Demokraten nicht weiter (jedenfalls nicht allzu stark). Und es ist „komisch“, dazu zu beobachten, wie die Begriffe der Kolonialisierung, Besatzung und Apartheid in Bezug auf die israelische Politik in Palästina, welche die Anti-Antisemiten hier in Frankreich oder Europa und in den USA nicht ertragen und kontinuierlich verdrängen, in Israel in den letzten Jahren überhaupt kein Tabu mehr sind: Dort ist die zionistische Unterdrückungs- und Vertreibungspolitik mittlerweile enthemmt.

B – Zweiter Teil

Da man es um der Klarheit der Darlegung einer Analyse willen kaum anders tun kann, als all diese verschiedenen Elemente getrennt voneinander zu präsentieren, obwohl sie es in der Realität nicht sind, ist es demnach angebracht, den Leser vor einem Verständnis zu warnen, das die verschiedenen Aspekte, die alle zur Komplexität einer Situation beitragen, voneinander trennen würde. Man sollte die Verflechtung der verschiedenen Konzepte, wovon jedes einen Teil der Realität abdeckt und ausdrückt, in ihrer Gesamtheit betrachten: jüdische Religion, Judentum, jüdisches Volk, Zionismus, Genozid an den Juden Europas durch die Nazis in den Vernichtungslagern, Palästina, Israel, Antisemitismus, Imperialismus und Geopolitik, Islamismus… Man kann nicht behaupten, die Wechselwirkungen zwischen all diesen Aspekten zu verstehen, ohne jeden dieser Begriffe zu entmystifizieren und zu entmythologisieren. Ich schlage hier vor, hinsichtlich einiger dieser Aspekte so zu vorzugehen, ohne natürlich Anspruch auf irgendeine Vollständigkeit zu erheben, was meine Möglichkeiten übersteigen würde.

1. Israel: Zionismus, Nationalismus, Kolonialismus und Rassismus

Es gibt keinen fundamentalen Grund, die Frage des Judentums von den beiden anderen monotheistischen abrahamitischen Religionen, Christentum und Islam, zu unterscheiden. Alle drei bekräftigen sie die Existenz eines einzigen transzendenten, allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Gottes. Alle drei stützen sich auf die Gläubigkeit, den Glauben an die Existenz eines gerechten und (und somit natürlich in seiner Nicht-Körperlichkeit) unfehlbaren Schöpfers und alle drei behaupten, eine Antwort mithilfe verschiedener Prinzipien wie die Verehrung Gottes und die Befolgung diverser (und sich mit der Zeit entwickelnder) Lebensregeln, die invariabel im Modus Bestrafung/Belohnung funktionieren, auf das (seinerseits sehr körperliche) menschliche Leiden bereitzuhalten. Auf gleiche Art und Weise stützen diese drei Religionen patriarchale gesellschaftliche Verhältnisse, in welchen die Stellung der Frau aufgrund des göttlichen Willens niedriger ist als jene des Mannes. Ich sehe auch keinen fundamentalen Grund, den Begriff „jüdisches Volk“ von anderen ähnlichen Begriffen zu unterscheiden, „französisches Volk“, „russisches Volk“, chinesisches, amerikanisches, usbekisches oder australisches. Jedes Mal handelt es sich um eine frei erfundene Geschichte, die jedoch ihre schädliche Kraft aus der Tatsache bezieht, dass sie „ihren Bürgern“ die gemeinschaftlichen Wohltaten (die unsere menschlichen Bedürfnisse befriedigen) verschaffen kann, welche wir seit Jahrhunderten und Jahrtausenden verloren haben, aufgrund jener Trennungen, welche die Menschen spalten, aufgrund unserer Atomisierung. In diesem Sinne ist die Idee oder Illusion, mit diesem oder jenem Volk, mit welchem man sich identifiziert (mit der „jüdischen“, „französischen“, „russischen“ usw. Gemeinschaft), fest verbunden zu sein, auch eine Antwort auf ein reelles Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Die ganze Symbolik, alle Codes und Zeichen (die häufig der wirklichen Geschichte der Bewohner der verschiedenen Territorien während verschiedenen Epochen entnommen werden) stellen ein wesentliches Bauteil dar, das dazu beiträgt, die Erzählungen jedes Volkes zu konsolidieren, und können somit zu seinem Gründungsmythos werden.

Es ist leicht nachvollziehbar, dass sowohl für die drei monotheistischen Religionen wie auch die vielfältigen Völker, in ihren Bindungen bis zu den Ursprüngen, Wurzeln und Territorien, die Frage der Identität und Reinheit derselben im Zentrum ihrer Besorgnis steht. Die Ablehnung der Vermischung stellt in dieser Konstruktion einen wesentlichen Dreh- und Angelpunkt dar, d.h. eine Ideologie, die behauptet, dass diese oder jene besondere Kultur ihre Legitimität und ihre Kraft aus ihrer Verwurzelung in einer jahrhundertealten oder gar jahrtausendealten Geschichte schöpft (und für die Religionen seit aller Ewigkeit) und/oder in einem Boden, in einem als heilig verehrten Territorium, ausgehend von welchem „der Andere“ zwangsläufig zu einem bedrohlichen Fremden, einem Feind wird. In diesem Ansatz hat es auch keinen Platz für die Andersartigkeit in uns selbst: Wir werden zu essentialisierten Wesen, unbeweglichen Teilen in einer reinen, linearen und identisch reproduzierbaren Abstammung. Wenn ich mich auf meine Zugehörigkeit zum jüdischen, französischen, russischen, chinesischen, amerikanischen, usbekischen oder jedem anderen Volk berufe, werde ich also zu einem Teil dieser mythischen Geschichte, ich bestätige die Identität, auf welche ich mich berufe, und sie bestätigt mich als Bürger dieser besonderen mythischen „Gemeinschaft“… Man muss sich der extremen Komplexität all dieser gänzlich konstruierten identitären Elemente, welche die Wirklichkeit jeder nationalen Erzählung belegen sollen, bewusst sein, um zu verstehen, wie eine Mehrheit der Leute vollständig dieser Fiktion anhängt und sich sogar auf sie beruft. Ab unserer Geburt nährt man uns mit solchen patriotischen Werten und Zeichen, die systematisch durch eine höchst wissenschaftliche Geschichtsschreibung konsolidiert werden und überall zur Konstruktion nationaler Identitäten beitragen.

In den meisten Fällen liegt diesen Mechanismen der Zugehörigkeit eine ängstliche Abweisung durch den Bürger der Realität und beunruhigenden Aspekte seines Lebens zugrunde. Ausgehend von einer solchen ängstlichen Abweisung der Realität wird es also heilsbringend, seine nationale Identität gegen jedes „fremde“ Element zu verteidigen, gegen jede „äussere“ Bedrohung, gegen das Nicht-Gleiche und sogar gegen jeglichen kritischen Blick, gegen jegliche Infragestellung der Richtigkeit dieser identitären Konstruktion [25]. So kann jeglicher Ausdruck irgendeines Unterschiedes, der Hautfarbe, des linguistischen Dialekts oder der Praktizierung eines anderen Glaubens, konstitutiv werden für eine klarere Abgrenzung durch die Träger eines nationalen Bewusstseins, für welches es in der Konstruktion einer Repräsentation ihrer Nation unerlässlich ist, jene kategorisch und absolut zu qualifizieren, von welchen man entschieden hat, dass sie aus der nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen sein müssen.

Neben dem „spontanen“, (im weiteren Sinne) kulturellen Aspekt dieser gemeinschaftlichen identitären Auferlegung muss ein weiteres wesentliches Element in diesem ganzen Prozess betont werden, nämlich der Staatsterrorismus und der Zwang, die direkte und offene Gewalt der gesamten Gesellschaft, die von der kinetischen Gewalt, die im potenziellen Zustand agiert, untrennbar ist, letztere kommt ohne Säbelrasseln und Blutvergiessen aus. Diese potenzielle Gewalt ist „nur“ die offene Androhung von Gewalt, die wir Generation für Generation in unserer Psyche absorbiert und integriert haben und die auf heimtückische und unsichtbare Art und Weise unser Handeln beeinflusst.

Ein wesentlicher Punkt muss hier sogleich betont werden: Wie sie weiter oben benutzt werden, könnten die Begriffe „mythische Gemeinschaft“, „erfundene Identität“, „Gründungsmythos“, „fiktive Geschichte“ usw. nahelegen, dass es sich hier um total künstliche und imaginäre Gegebenheiten handelt. In Wirklichkeit decken sie eine durchaus konkrete, materielle Realität ab, die nichts anderes ist, als das Reelle, in dem wir leben und das uns jeden Tag gegenübersteht. Wir entwickeln uns und kämpfen in dieser Situation und sind ein fester Bestandteil dieser Realität. Wir verlieben uns darin, machen darin Kinder, wir werden darin bei Gelegenheit hospitalisiert, wir verdienen darin unser mageres Brot… Und sogar wenn wir dagegen kämpfen [26], reproduzieren wir diese verschiedenen Identitäten und Käfige, in welchen wir gefangen sind. Es ist von zentraler Bedeutung, zu verstehen, dass die Realität eines Landes auch etwas anderes – viel mehr – ist, als schlichtweg die Realität dieses Landes als Nation, denn sie ist reich an der gesamten Bevölkerung, die darin lebt und kämpft. Besonders all diese Einwanderungen machen eine Bevölkerung in einem Land sesshaft, wo sie somit die Realität davon wird. In Israel genau wie anderswo. Man wird also häufig Leute treffen, die sich als „Franzosen“, „Russen“, „Chinesen“, „Israelis“ oder „Juden“ bezeichnen und sich als solche identifizieren – doch nichtsdestotrotz, wer könnte behaupten, er sei fähig, zu definieren, was das „französische Volk“ sein soll, oder das „russische“, „chinesische“ – oder das „jüdische“!?

In gleichem Masse muss man hier vor der Falle warnen, die darin besteht, identitäre Valorisierungen als Kampf gegen die Ausbeutung zu verstehen. Die herrschenden Mächte haben ein ziemliches einfaches Spiel, die Sicherheitsbedürfnisse ihrer Bevölkerungen dahingehend zu manipulieren. Und dafür Mobilisierungen anzubieten, die zum Zweck haben, die Unzufriedenheit gegen einen vermeintlichen äusseren Angreifer oder einen angeblichen „inneren Feind“ zu lenken. Die damit einhergehende wahnsinnige Rhetorik und extrem repressive Politik bezüglich der „Flüchtlingskrise“ oder „illegalen Einwanderung“, die seit Jahrzehnten von der gesamten politischen Klasse in den meisten europäischen Ländern, und überall sonst auf der Welt, bis zum Überdruss wiederholt werden, illustrieren diesen Punkt perfekt.

Jede Kriegssituation stellt, freilich auf extreme Art und Weise – aber eine extreme Art und Weise, die ihren verallgemeinerten Charakter alles andere als ausschliesst – einen Hinweis auf diese tödliche Falle dar. Man denke an den Krieg Russland-Ukraine, und auch an alle anderen Kriege, auf jeder Seite der Frontlinie ist es immer und überall das gleiche Lied: Verteidigt euer Land, opfert euch, geht sterben für das Vaterland – es geht immer darum, die Ausgebeuteten an die Nationalökonomie zu ketten und sie dazu zu bringen, sich gegenseitig zu töten, indem sie hinter ihren jeweiligen Flaggen eingereiht werden. Der Patriotismus spielt eine wesentliche Rolle in der kapitalistischen Organisation, um die Umrisse des gesellschaftlichen Antagonismus zu verwischen. Es ist weder eine Absurdität noch ein „einfacher“ Rückfall der Menschheit in die Barbarei, sondern eine sozio-ökonomisch-politische Entwicklung, die kohärent ist mit den kapitalistischen Logiken, d.h. mit den Zwängen des Werts und den Interessen der bürgerlichen Klasse, die sich materiell und subjektiv mit den Werten der kapitalistischen Gesellschaft identifiziert. Dieser Punkt illustriert gut, wie kurios es wäre, die Frage der Klassen und der Herrschaft des Werts im Kapitalismus getrennt voneinander zu betrachten. Da die Kriege ein stets wiederkehrendes (und im weiteren Sinne gar permanentes) Element der kapitalistischen Herrschaft und diesbezüglich eine passende Antwort darstellen auf die Zwänge des Wertgesetzes, das fast ununterbrochene Zerstörungen von Waren (auch der Ware Arbeitskraft) erfordert und verursacht, wie könnte man sie also anders konzipieren als durch das Treiben der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen – ausser man begnügt sich damit, immer auf grob vereinfachende Art und Weise „die Barbarei“ und den „Krieg aller gegen alle“ diesbezüglich zu evozieren, doch das würde uns auf eine Hobessche Konzeption einer vom „homo homini lupus est“ beherrschten Gesellschaft zurückwerfen.

Etliche geschichtliche Tatsachen zeigen, dass der Staat Israel nicht nur die Juden nicht beschützt, sondern auch peinlich genau seine Funktion als nationaler Staat wahrnimmt, indem er diktatorisch die Notwendigkeiten des Kapitals im von ihm beherrschten geographischen Gebiet durchsetzt. Und das wirtschaftlich, gesellschaftlich, militärisch, politisch und geostrategisch. Ich gebe gerne zu, dass auch die etlichen „nützlichen Idioten“ Teil dieser israelischen Realität sind, jene, welche glaubten, dass sie, indem sie mehr als 500 Dörfer dem Erdboden gleichmachten und 700‘000 seit langem auf diesem palästinensischen Boden lebende Bewohner vertrieben, unter diesen Bedingungen Frieden und ein ruhiges Leben finden würden. Aber ist der Glaube an eine solche Illusion nicht eben genau die Tragödie aller kolonialen Siedler!?

Erwähnen wir folgende Punkte als Beispiele dieser historischen Tatsachen:

  • Der Zionismus entsteht ausgehend von der Situation der Unterdrückung (Pogrome, Diskriminierungen, Verfolgungen, Ghettoisierungen…), welche die jüdischen Minderheiten im christlichen Europa seit dem Mittelalter erdulden müssen;
  • die Reaktionen und Widerstände der jüdischen Gemeinschaften in Europa, die zum Ziel dieser Pogrome und Massaker im Verlauf der Geschichte wurden, waren vielfältig und variabel: Übertreten zum Christentum und andere Assimilationsanstrengungen und -versuche, Auswanderung in vermeintlich weniger feindlich gesinnte Gebiete und auch gemeinschaftliche gegenseitige Hilfe und Kämpfe, um sich gegen die Angriffe und Verfolgungen zu verteidigen. Für etliche Juden war eine solche Verteidigung gegen die gegen sie gerichtete Unterdrückung untrennbar mit dem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung und für eine soziale Revolution verbunden und sie engagierten und organisierten sich also dahingehend: der Bund, der sich im Übrigen gegen den Zionismus positionierte, die bolschewistische Partei, die eine grosse Anzahl jüdischer Aktivisten und Anführer in ihren Rängen zählte, sowie in Deutschland und in den meisten Ländern mit jüdischer Einwanderung. Man sollte die Bedeutung dieses Faktors (die Figur des „subversiven, revolutionären Juden“) in der Absicht der Antisemiten in Deutschland und England zum Beispiel, sich „ihrer“ Juden zu entledigen, nicht unterschätzen. Nach der Welle von Pogromen zwischen 1881 und 1884 wanderten in den darauffolgenden drei Jahrzehnten ungefähr zweieinhalb Millionen jiddischsprachige osteuropäische Juden (von sechs Millionen) nach Westeuropa aus, sie migrierten Richtung Deutschland, ein Teil davon endete dann auf dem amerikanischen Kontinent. Weniger als drei Prozent von ihnen entschieden sich, ins osmanische Palästina auszuwandern, sie verliessen es übrigens in den meisten Fällen danach auch wieder (siehe Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Propyläen, 2010). Bis zur Formulierung des zionistischen Projekts durch Theodor Herzl war das Projekt einer „Rückkehr nach Palästina“ nie eine der Antworten auf den Antisemitismus;
  • Herzl war davon überzeugt, dass nur der Aufbau einer jüdischen Nation auf einem getrennten und unabhängigen nationalen Territorium (und somit ohne Nicht-Juden!) imstande war, dem von ihm erdachten „jüdischen Volk“ Wohlstand zu bringen. Dieses „jüdische Volk“ betrachtete er auf Anhieb auf einer Klassenbasis, mit einer jüdischen Bourgeoisie (Klasse, aus der er hervorgegangen war) und jüdischen Proletariern. Er konstruierte fortan dieses „jüdische Volk“ auf Kosten der vielen Kulturen der grossen jüdischen Diaspora, die alle letztendlich verschwinden würden, die wichtigste davon war die jiddische Kultur mit ihrer Sprache, ihrer Musik, ihrer Küche, ihrer Literatur;
  • das 1897 [27] entstandene zionistische Projekt Herzls (das Projekt der Erschaffung einer nationalen jüdischen Heimstätte) muss im Zusammenhang mit den aufkommenden Nationalismen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Europa betrachtet werden, sie begleiteten die zunehmenden interimperialistischen Spannungen (osmanisches Reich, Deutschland, Grossbritannien, USA, Frankreich, Belgien, Niederlande). Dieser Zionismus ist von Anfang an und über all seine verschiedenen Bestandteile hinweg geprägt vom typischen Eurozentrismus des 19. Jahrhunderts mit seinen kolonialistischen und rassistischen Postulaten. Obwohl ein „linker Arbeiterzionismus“ sich von Anfang an der jüdischen Kolonialisierung Palästinas durchsetzen konnte, stützte er sich von Beginn weg auf rassistische und segregationistische Grundlagen und sein emanzipatorischer Aspekt existierte nur in der Vorstellung seiner Anhänger. Was den „sozialisierenden“, die Kibbuze und Moschawim animierenden Idealismus betrifft, waren diese kollektivistischen Ansiedlungen eine Antwort auf die Notwendigkeit, Land zu kolonialisieren, das von den Palästinensern geraubt worden war und von dem sie verjagt worden waren, womit sie ihnen zunehmend feindlich gesinnt waren. Diese kollektivistischen Ansiedlungen waren sicherer als es eine individuelle familiäre Ansiedlung hätte sein können;
  • ab 1903 erklärt sich Grossbritannien dazu bereit, die Erschaffung einer jüdischen Kolonie in Uganda (heutiges Kenia) zu akzeptieren, später, mit der Balfour-Deklaration (1917), spricht sich die britische Regierung formell für den Aufbau einer nationalen jüdischen Heimstätte in Palästina aus. Es handelt sich hier um grosse Manöver zwischen imperialistischen Mächten, die sich in der Kontinuität des zum Zerfall des Osmanischen Reiches führenden Ersten Weltkrieges austoben. Das zionistische Projekt erlangt seine Stärke und seine internationale Legitimität aus den interimperialistischen Konfrontationen, denn es wird zu einem strategischen Spielstein im Mittleren Osten.
  • Das Projekt Herzls hat von Anfang an die systematische Ermutigung der Kolonialisierung Palästinas durch die Ansiedlung von jüdischen Landwirten, Handwerkern und Händlern zum Ziel. Zu diesem Zweck wird 1901 ein Bankinstitut gegründet, der KKL, der es dem Jüdischen Nationalfonds erlauben soll, den dortigen Landeigentümern (häufig syrische Standespersonen) Land und Höfe abzukaufen, die Bauern in Halbpacht werden davon vertrieben, um durch jüdische Siedler und ausschliesslich jüdische Arbeitskraft ersetzt zu werden. Doch die intensivste Aktivität Herzls konzentriert sich auf die diplomatischen Anstrengungen, um die Unterstützung der europäischen Mächte für die Kolonialisierung Palästinas zu erhalten. Hierfür versucht Herzl, sich in der Kontinuität der kolonialen Unternehmungen der Epoche zu verorten: Belgien in Kongo, Deutschland in seiner Kolonie im Südwesten Afrikas, Italien in Somalia und Eritrea… „Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen“, schreibt er 1896 in Der Judenstaat.
  • Im Rahmen seiner diplomatischen Anstrengungen ergreift Herzl im Namen des fünften Zionistenkongresses in Basel (1901) die Initiative, folgendes Telegramm an den Sultan Abdul Hamid II. zu senden: „Zum Zeitpunkt des Zionistenkongresses, der heute in Basel Repräsentanten des jüdischen Volkes aller Länder versammelt, bitte ich Eure Hoheit um die Erlaubnis, die Ehrerbietungen einer tiefen Ergebenheit und der Anerkennung aller Juden für die stets gegenüber ihnen gezeigten Güte durch Seine Kaiserliche Majestät der Sultan vor den Kaiserlichen Thron zu legen. Gestattet, Majestät, den Ausdruck meiner ehrerbietigen Hochachtung.“ Eine „Hochachtung“ seitens Theodor Herzls, der die Augen verschloss vor den Massakern zwischen dem Sommer 1894 und dem Winter 1896-1897, die mehr als 200‘000 Armeniern das Leben kosteten und für die Abdul Hamid II. der Hauptverantwortliche war [28]. Herzl hat auch keine Skrupel, andere notorische Antisemiten für seine zionistische Sache zu gewinnen, wie es seine Treffen (1903) mit dem einige Monate zuvor für die antisemitischen Pogrome in der Stadt Kischinjow verantwortlichen russischen Innenminister Wjatscheslaw Plehwe zeigen [29].
  • Histadrut: der Allgemeine Verband der Arbeiter, Gewerkschaft der „Arbeiter im Lande Israel“, wurde von der zionistischen Bewegung in Haifa 1920 gegründet. Er hält in den Statuten fest, dass „nur jüdische Arbeiter“ Mitglieder davon werden können. Sein erklärtes Ziel war ab seiner Gründung, die Ansiedlung jüdischer Arbeiter in Palästina zu begünstigen und ihre Interessen gegenüber den Arbeitgebern durch die Zurückdrängung der günstigeren da prekäreren arabischen Arbeitskraft zu verteidigen. „Ich musste bezüglich der Frage des jüdischen Sozialismus gegen meine Freunde ankämpfen: Die Tatsache verteidigen, dass ich keine Araber in meiner Gewerkschaft akzeptieren würde; die Propaganda gegenüber den Hausfrauen verteidigen, damit sie nicht in den arabischen Läden kaufen; die arabischen Arbeiter daran hindern, hier Arbeit zu finden […] Ich musste Kerosin über die arabischen Tomaten schütten, die jüdischen Hausfrauen auf dem Markt angreifen und die von ihnen gekauften arabischen Eier zerdrücken“, schreibt David Hacohen [30], Anführer der Mapei, der wichtigsten zionistischen Partei, die den Ruf hat, eine „Arbeiterpartei“ zu sein. Die Histadrut wird mit der Zeit zur dominanten und hegemonialen Säule der Wirtschaft und der Infrastrukturen der jüdischen Kolonien.

2. Eine Monopolisierung der Opferrolle

Einer der Diskurse, den man häufig bezüglich Israel liest und hört, behauptet, die palästinensischen Organisationen und Bevölkerungen würden die „moralische Verpflichtung“ des Existenzrechts Israels nicht anerkennen. Und dass diese palästinensischen Organisationen und ihre Anhänger für die Zerstörung des hebräischen Staates seien. Und dass deshalb keine Verhandlungen mit diesen Organisationen in Betracht gezogen würden. Auch hier in Europa drängt man uns dazu, die „moralische Verpflichtung“ des Existenzrechts Israels anzuerkennen, wenn wir nicht verdächtigt werden wollen, antisemitisch zu sein. Aber das Manöver ist plump: Denn mit dieser Argumentation beruft man sich auf eine „moralische Verpflichtung“ des Existenzrechts Israels, um die reellen Rechte der palästinensischen Bevölkerungen auf ein würdiges Leben, dass dieser „moralische“ Staat seit den ersten Tagen der zionistischen Kolonialisierung Palästinas, seit mehr als einem Jahrhundert, mit Füssen tritt, besser wegzuwischen und unsichtbar zu machen. Israel verweigert den Palästinensern das reelle Recht auf Existenz – faktisch, indem sie verjagt, ausgehungert und massakriert werden. Dieser perverse Diskurs versucht schlichtweg, die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung umzukehren! Noch bedeutender, und in totalem Widerspruch zum Gründungsmythos, der eine Koalition aller arabischen Länder zur Zerstörung Israels postuliert, ist die Tatsache, dass es in Wirklichkeit übereinstimmende strategische Interessen zwischen den zionistischen Anführern und den verschiedenen arabischen Regimes im Nahen Osten gibt, das zeigen die diplomatischen Kontakte seit der Ausrufung des hebräischen Staates zwischen der haschemitischen Monarchie, dem König Jordaniens Abdullah, und David Ben Gurion (Quelle: Simha Flapan, The Birth of Israel. Myths and Realities, New York, Pantheon). Und der Verlauf des Sechstagekriegs 1967 widerspricht dieser Feststellung keineswegs, denn schon am ersten Tag war die Hälfte der arabischen Luftkraft zerstört und – nach nur sechs Tagen – die Armeen Ägyptens, Syriens und Jordaniens besiegt. Was es Israel damals erlaubte, sein Territorium zu vergrössern, indem der Sinai, der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem annektiert wurden, also die Gesamtheit des Territoriums Palästinas. Die Instrumentalisierung der wichtigsten palästinensischen Organisationen durch Israel zur optimalen Verwaltung dieser Territorien, wo Millionen überschüssiger Proletarier im Gazastreifen und im Westjordanland überleben, ist ebenfalls Teil dieser Logik.

Das Argument rund um diese „moralische Verpflichtung“ des Existenzrechts, das nur dazu dient, die öffentliche Meinung zu seinen Gunsten zu manipulieren, ist einer der verschiedenen Mythen, die der Zionismus ausgearbeitet hat, um seine kolonialisierende Politik im Lande Palästinas besser durchzusetzen. Folgende Erzählungen sind Teil dieser Mythologie:

  • Eine Vorstellungswelt, gemäss welcher die Juden während zweitausend Jahren eine ethnische und stets nach ihrer Rückkehr in die Heimat strebende Nation im Exil gebildet haben. Diese Idee, die im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet und von der dem Zionismus – ein laizistischer Zionismus, der jedoch nicht zögert, sich auf jüdische Bezüge zu berufen – eigenen jüdischen Geschichtsschreibung untermauert worden ist, wird durch die universitären Autoritäten in Israel derart weitgehend validiert, dass sie zu einer wissenschaftlichen Wahrheit geworden ist, obwohl dieses Märchen, das eine Linearität der Geschichte Israels konstruiert, seinen Ursprung in der Bibel hat. Beide der in ihm enthaltenen Behauptungen sind falsch: Die Juden haben nicht während zweitausend Jahren eine geeinte Nation gebildet und die Geschichte der jüdischen Diaspora zeigt zu keinem Zeitpunkt, mit Ausnahme des Zionismus, ein Streben nach einer Ansiedlung in Palästina.
  • Man kennt die zentrale politische und kulturelle Bedeutung des Wortes Holocaust im vom Staat Israel ausgearbeiteten kollektiven Gedenken (die englische Version der Unabhängigkeitserklärung benutzt den Begriff) für die Konstruktion der nationalen Identität. Das Wort Holocaust trägt in seiner Definition selbst den Grund des Verbrechens, das es beschreibt, nämlich die Ermordung eines gesamten „Märtyrervolkes“, das sich geopfert habe, um wer weiss welche Schuld zu sühnen. Durch diese Manipulation versucht der hebräische Staat, die völkermörderische Unternehmung der Nazis in einer überhängenden transzendentalen Position, jenseits jeglicher weltlicher Betrachtung zu platzieren, wie damit seine eigenen Massaker an den Palästinensern. Es muss betont werden, dass die Hamas ein ähnliches Verfahren benutzt, indem sie systematisch ihre im Kampf getöteten Mitglieder als „Märtyrer“ bezeichnet und die Jugendlichen dazu animiert, als „Märtyrer“ für die Sache der „nationalen Befreiung Palästinas zu sterben“. Indem der Völkermord der Nazis an den Juden lexikalisch und ideologisch in ein „Opfer“ verwandelt wird, hat der hebräische Staat die Proklamierung einer Aussergewöhnlichkeit des jüdischen Schicksals zum Ziel, womit es in den Zusammenhang keiner vollwertigen historischen Perspektive (ausser der biblischen) gestellt werden kann. Man muss zugeben, dass dieses Manöver ziemlich gut funktioniert hat, jedenfalls in den westlichen Ländern. Als Beleg dafür kann die Gründung der IHRA (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) 1988 angeführt werden, sie hat sich die Förderung des Gedenkens an den Holocaust und die Forschung darüber „in der ganzen Welt“ zum Ziel gesetzt. Und im Mai 2016 haben sich die 31 Staaten der IHRA auf eine Definition des Antisemitismus geeinigt, gemäss welcher dieser Text, ja, genau, der hier, als antisemitische Streitschrift katalogisiert würde, da gemäss ihren Kriterien die Behauptung antisemitisch sei, die Existenz Israels sei das Resultat einer rassistischen Unternehmung. Unter den elf von der IHRA aufgelisteten Beispielen für Antisemitismus betreffen sieben den Staat Israel und seine Politik, darunter dieses surrealistische Kriterium „von Israel verlangen, sich so zu verhalten, wie es von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert würde“. Vergessen wir nicht, dass Israel seit seiner Gründung praktisch keine es betreffende Resolution der UNO respektiert hat.
  • Der hebräische Staat sei die gerechte Antwort der Juden auf die vielen von ihnen erduldeten Pogrome und allen voran den Völkermord durch das Naziregime während dem Zweiten Weltkrieg [31]. Es ist das Totschlagargument, um jegliche Kritik an Israel und dem Zionismus zu delegitimieren. Die sechs Millionen in den Vernichtungslagern der Nazis ermordeten Juden seien also der unwiderlegbare Beweis für die Notwendigkeit und Richtigkeit der Gründung des Staates Israel. Diese Behauptung kann nicht nur durch verschiedene historische Tatsachen widerlegt werden, sondern letztere sind auch mit einer ethischen und moralischen Betrachtung verbunden, an die an dieser Stelle erinnert werden soll, auch wenn es sich hier um eine sehr grundlegende Betrachtung handelt.
    Es sind eben genau die Millionen Opfer der Vernichtungspolitik der Nazis, die einen totalen Respekt der menschlichen Würde und eine absolute Anerkennung der von allen Menschen geteilten menschlichen Gemeinschaft gebieten, ohne Unterscheidung von Herkunft, Religionen, Meinungen… Davon kann die Notwendigkeit abgeleitet werden, korrekt und präzis die zugrundeliegenden tiefen Ursachen der von uns erlittenen Situationen der alltäglichen und historischen Unterdrückung zu identifizieren. Deswegen ist eine radikale Kritik des Kapitalismus und der Apostel der kapitalistischen Unterdrückung zentral. Nur so ist es realistisch und machbar, „die Wurzeln“ der Situationen der Ausbeutung und Unterdrückung anzugehen und besonders auch diese derart gängige Neigung, zu versuchen, seinen Ärger an als verantwortlich für unser Elend designierten Sündenböcken auszulassen (an Personengruppen, die in den meisten Fällen in einer noch prekäreren Situation sind als man selbst). Eine solche radikale Kritik ist für unsere Emanzipation unumgänglich.

Eine solche Emanzipation hat der Zionismus eben genau nicht verwirklicht und konnte es auch nicht, auf keine Art und Weise, weder durch seine Ideologie noch durch seine Organisation. In Anbetracht seines von Anfang an kolonialistischen und rassistischen Inhalts konnte der Zionismus mitnichten irgendjemandem eine Perspektive menschlicher Emanzipation anbieten und, in erster Linie, nicht den Juden.

Zu den das belegenden Tatsachen zählt jene von der zionistischen Bewegung kultivierte Überzeugung der Zugehörigkeit zu einer höheren Zivilisation, einer „liberalen“ Zivilisation, deren Bezeichnung die Tatsache nicht kaschieren kann, dass diese ach so sehr gepriesene Freiheit im Wesentlichen eine unbegrenzte Warenproduktion betrifft, um einen nicht minder unbegrenzten zwanghaften Konsum davon zu befördern. Diese vermeintliche zivilisatorische Überlegenheit hat sich während der gesamten Geschichte der zionistischen Bewegung ausgebildet, sie war präsent seit ihren Ursprüngen und hat sich bei der Staatsgründung Israels herauskristallisiert. So konnte sich dieser Staat dazu überwinden, bei Gelegenheit einzugestehen, dass den Palästinensern „Unrecht“ geschah, aber nur „relatives und unvermeidliches“ Unrecht, denn schliesslich gründete dieses Unrecht auf der dafür erhaltenen Gegenleistung, der Rettung der Holocaust-Überlebenden. Klar infrage gestellt wurde diese Version durch die Aktualisierung jener Informationen, die nicht nur die Unfähigkeit der zionistischen Institutionen zur Unterstützung der Juden Europas während des Krieges zeigte, sondern vor allem „ihre Zurückhaltung darin, ihnen die nötige Unterstützung zukommen zu lassen, wenn der Zufluchtsort der Überlebenden etwas anderes als ‚Eretz Israel‘ war. Die Möglichkeiten zur Rettung waren freilich begrenzt, doch sie waren alles andere als prioritär, denn für Ben Gurion und die anderen Zionisten war es viel wichtiger, alle Anstrengungen der Institutionen und ihre finanziellen Ressourcen auf die Fortsetzung der Kolonialisierung und den Staatsaufbau zu konzentrieren. Ihre Beziehungen zu den Überlebenden des Zweiten Weltkrieges, die nach Palästina unter britischem Mandat, das später zu Israel wurde, eingewandert waren, waren weder frei von Instrumentalisierung, noch von Paternalismus. Das junge zionistische Zugehörigkeitsgefühl in der zionistischen Gemeinschaft Palästinas vor den grossen Einwanderungswellen versteckte die Verachtung gegenüber der Schwäche, dem Mangel an ‚Virilität‘ und Nationalstolz dieser Juden, Überlebenden der Shoa, sowie gegenüber ihrem kulturellen Erbe nicht. Und während die Überlebenden des Holocaust die Verachtung erdulden mussten, wurden die Einwanderer aus islamischen Ländern später zu Opfern einer aggressiven systematischen Politik, die zum Ziel hatte, ihre ursprüngliche Identität auszulöschen.“ [32]

Die durch den Zionismus und den Staat Israel vorgenommene Privatisierung und Monopolisierung der Opferrolle ist Teil dieser gleichen Logik. Meiner Meinung nach ist es unwürdig und empörend, die Opferrolle gegenüber den vom Hitler-Regime begangenen Grausamkeiten einzig der jüdischen Bevölkerung zuzugestehen und die etlichen anderen Opfer wie, in anderen Proportionen, Homosexuelle, Zigeuner, Slawen, „Behinderte“, Widerstandskämpfer, Kommunisten, Kriegsgefangene, Freimaurer oder auch Zeugen Jehovas zu ignorieren. Und wie soll man die Millionen Menschen betrachten, die während diesem Zweiten Weltkrieg starben, man spricht hier von 60 Millionen Opfer, ein Drittel davon aus Russland, was damals 10% seiner Bevölkerung entsprach? Es geht bestimmt nicht darum, all diese Unmenschlichkeit auf einer Art Skala der Grausamkeit zu erfassen oder hierarchisieren oder in einen Zusammenhang der Konkurrenz des Gedenkens zu stellen, sondern darum, anzuerkennen, inwieweit diese schrecklichen Massaker das Los so vieler Bevölkerungen weltweit waren. Im Falle Israels ist es klar die Staatsräson, welche diese Monopolisierung der Opferrolle für die eigenen Bürger mit dem Ziel antreibt, somit die Gefühle der Empathie und der Sympathie, die allgemein das Leid der anderen auslösen, zu monopolisieren.

3. Die Wertkritik, mit Kurz, in Israel

Kommen wir auf den Anti-Antisemitismus der Wertkritik zurück, da für sie in der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft die Fragen der Macht, Ausbeutung und Klassenherrschaft sozusagen nicht existieren, ist sie also nicht fähig, eine dialektische Analyse der die Staatsgründung Israels lenkenden Kräfteverhältnisse und Streitgegenstände durchzuführen. Bezüglich dieser Fragen, wie im Beispiel des schon erwähnten Texts von Robert Kurz, dessen wahnsinnige Positionen von ihr nicht im Geringsten kritisiert worden sind, kann die Wertkritik nichts anderes tun, als auf einer prinzipiellen moralischen Position beharren, die zu nichts anderem führt als einer erbitterten Verteidigung der zionistischen Politik des hebräischen Staates. Kurz schiebt das Argument vor, es gehe darum, den Staat Israel zu unterstützen, weil dieser es dem jüdischen Volk erlaube, sich zu verteidigen und sich vor einem zweiten Völkermord wie jenem der Nazis, der mit dem Zweiten Weltkrieg zur fast vollständigen Vernichtung der Juden Europas führte, zu schützen. In seinem Artikel anerkennt Kurz den kapitalistischen Charakter des Staates Israel, aber er fügt sogleich an, dass diese Nation einen Doppelcharakter insofern habe, als seine Entstehung nicht im Rahmen eines üblichen nationalen Staatsaufbaus geschah, sondern gleichzeitig eine jüdische Reaktion auf den weltweiten und besonders europäischen Antisemitismus gewesen sei. Er übernimmt somit ein Schlüsselargument der Weihrauchträger des Staates Israel seit seiner Gründung 1948. Es muss zu diesem Punkt unterstrichen werden, dass, wenn wir den Logiken der Wertkritik bezüglich einer „beherrschten Herrschaft“ und seiner Ablehnung dessen, was sie „subjektive Herrschaftsverhältnisse“ nennt, treu bleiben würden, die Betrachtungen von Kurz somit total unzulässig wären, denn was analysiert er hier letztendlich anderes, als subjektive Herrschaftsverhältnisse?!

In seinem gesamten Text entwickelt Kurz seine Argumentation auf der Grundlage dreier Schlüsselelemente, die er nie hinterfragt:

 des Antisemitismus, denn es existiere ein „kollektives antijüdisches Unbewusstes“, ein „unbewusster Judenhass“ und sogar ein „antisemitisches Syndrom der Moderne“;

 des Doppelcharakters des hebräischen Staates, kapitalistisch, aber auch Beschützer des jüdischen Volkes;

 Kurz setzt meistens, um nicht zu sagen systematisch, die palästinensische Bevölkerung mit der „in den Poren der Bevölkerung von Gaza verschanzte[n]“ Hamas gleich; „die Mehrheitsentscheidung für die Hamas in Gaza [bedeutet] einzig und allein, dass es hier keine an sich unschuldige Zivilbevölkerung gibt“ [33].

Es ist verblüffend, feststellen zu müssen, dass, gegenüber einer Position, welche die Zerstörung des Staates Israel verteidige, die von Kurz verteidigte Position das genaue Gegenteil davon ist, nämlich eine unbedingte und ungezügelte Verteidigung ebendiesen Staates!!! Und um diese Entscheidung zu rechtfertigen, beruft er sich immer auf die gleiche Formel eines „kollektiven antijüdischen Unbewussten“ und es ist letztendlich dieser vermeintliche herdenmässige Antisemitismus, der zum absoluten Argument wird, um seine vorgefasste Meinung durchzusetzen. Dieses einzige Argument gehört in den Bereich der Psychologie und läuft in Wahrheit auf ein strukturell pathologisches „Massenunbewusstes“ hinaus, das in der Existenz eines antisemitischen „Syndroms“ gipfelt. Es ist kaum möglich, dieses Argument zu durchkreuzen, ausser man begibt sich selbst auf dieses gleiche psychologische Terrain. Aber um was handelt es sich in Wirklichkeit?

Schlicht und einfach um diese bequeme Behauptung, es gebe eine innere Verbindung zwischen Antisemitismus, Judenhass und dem Prozess der „Verwertungskrise“ und einer „kapitalistischen Barbarisierung [sic!]“. Aber die Wertkritik postuliert schlichtweg eine solche automatische innere Verbindung, denn man wird dahingehend kein fundiertes Argument finden.

Es gibt gewiss diesen Schematismus der Wertkritik, der behauptet, gegenüber einer abstrakten Herrschaft des Werts und der abstrakten Arbeit über unsere Leben seien wir unfähig, diese direkt zu erfassen und korrekt zu identifizieren, womit wir also nichts anderes tun können, als die Herrschaft des „Weltjudentums“ dafür verantwortlich zu machen. Das ist alles. Das Argument der Wertkritik kann mit dieser hier in einem Satz formulierten Position zusammengefasst werden. Ich sehe überhaupt keine logische Automatik zwischen diesen Elementen, auch nicht in der vermeintlichen Unfähigkeit der Menschen, die über ihr gesellschaftliches Leben herrschenden Abstraktionen zu erfassen oder identifizieren, oder in der Tatsache, zwingend diese oder jene besondere Kategorie der Bevölkerung für ihr Unglück verantwortlich zu machen. Im Gegenteil, die Behauptung, ein vermeintliches „Weltjudentum“ sei oder werde notwendigerweise und systematisch DAS Ziel aller Unzufriedenen, um ihre Frustrationen und ihren Hass auszudrücken, ist meines Erachtens Teil der von der Frage des Antisemitismus aufgeworfenen Problematik selbst (was Kurz übrigens mit seiner Pro-Israel-Hysterie illustriert). Durch ihre Auferlegung der von ihr als strukturell betrachteten Gleichung „Kampf gegen die Personalisierungen des Kapitals“ = Antisemitismus schliesst uns die Wertkritik in einem antisemitischen Universum ein, in welchem die Kämpfe für oder gegen „die Juden“ die Klassenkämpfe gegen die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung ersetzt haben sollen.

Der Doppelcharakter des Staates Israel seinerseits ist schlichtweg ein absurdes Argument. Dieses Argument erinnert mich an die Positionen der verschiedenen trotzkistischen Gruppen, die bis zum Ende der 1980er Jahre die UdSSR unter dem Vorwand unterstützten, es handle sich um einen „degenerierten Arbeiterstaat“, der einen Doppelcharakter habe (nämlich eine „sozialistische Wirtschaftsstruktur“ und gleichzeitig eine „politische Macht in den Händen einer bürokratischen Kaste“ – das hier benutzte Vokabular ist natürlich jenes der Trotzkisten).

Es ist absurd, davon auszugehen, dass ein Staat zu einem Zweck handeln könne, der ihm nicht als kapitalistischer Staat eigen wäre, dass er auch eine oder mehrere Funktionen erfüllen könne, die nicht seinem gesellschaftlichen Wesen entsprechen. Die Wertkritik spricht häufig von einem „durch den Staat vermittelten“ gesellschaftlichen Verhältnis, womit wiederum ein sozialdemokratischer Begriff zu dieser Frage übernommen wird. Eine sozialdemokratische Konzeption, gemäss welcher der Staat existiere, um die verschiedenen und einander entgegengesetzten Interessen der verschiedenen Segmente einer Gesellschaft miteinander zu versöhnen, um eine friedliche Koexistenz für eine harmonische Entwicklung des Kapitals zu erreichen. Auf der Grundlage etlicher blutiger Erfahrungen hat ein gewisser revolutionärer Marxismus diese Albernheiten seit mehr als einem Jahrhundert widerlegt und sehr klar und explizit formulieren können, dass der globale kapitalistische Staat (und wovon die verschiedenen Nationalstaaten nur seine besonderen Konkretisierungen sind) nichts anderes ist als die Konstitution der Interessen der herrschenden Klasse, der globalen bürgerlichen Klasse als zentralisierte Kraft. Der globale kapitalistische Staat befindet sich somit organisch (d.h. auch im Fall, wenn diese zentralisierte Kraft sich zuungunsten einer besonderen bürgerlichen Fraktion entfaltet) an vorderster Front, um überall die für diese kapitalistische Gesellschaft charakteristische Herrschaft des Werts und der Lohnarbeit zu garantieren. Diese Überdetermination des Staates in dieser Funktion leitet sich aus diesem grundlegenden Antagonismus zwischen dem globalen kapitalistischen Staat und den vitalen Bedürfnissen des globalen Proletariats ab und stützt ihn. Zu behaupten, ein besonderer Staat könne ausserhalb dieser organischen Funktion eine andere, dieser Überdetermination nicht entsprechende erfüllen, ist gleichbedeutend mit der Einsetzung einer Widersprüchlichkeit im Kern dieser Problematik. Da überhaupt kein einzelner Staat „seine nationale Bevölkerung“ beschützt, beschützt der hebräische Staat die Juden nicht! Tausende geschriebener Seiten der Wertkritik werden es, genau wie die Millionen veröffentlichter Bücher von Trotzkisten aller Strömungen zum Wesen des sowjetischen Staates damals, nie schaffen, das terroristische und menschenfeindliche Wesen des kapitalistischen Staates zu kaschieren, in Israel, Russland, der Ukraine, Frankreich und überall.

Die Realität, die konkreten Tatsachen zeigen offensichtlich, dass der jüdische Staat die Juden nicht beschützt: In Israel werden die jüdischen, arabischen und palästinensischen Proletarier von einer bürgerlichen Klasse, die, wie sonst überall auch, zur Durchsetzung ihrer Gebote vor nichts zurückschreckt, unterdrückt und ausgebeutet, sei es auf politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder jeder anderen Ebene, sie produzieren, schwitzen, opfern sich auf dem Altar des Werts auf, kriechen zu Kreuze, dienen als Kanonenfutter… In der israelischen „Start-up-Nation“ lebt gemäss den Zahlen der OECD [34] eine Person von fünf unterhalb der Armutsgrenze, der „schlechteste Wert aller Mitgliedsländer der Organisation nach Mexiko“. Wie es Staatsrassismen in allen Ländern der Welt gibt, konstitutive Rassismen jeder auf der Ablehnung des Anderen, des „Fremden“ basierenden nationalen Entität, gibt es gleichermassen einen Staatsrassismus in Israel, nicht nur gegenüber der palästinensischen, sondern auch gegenüber einem bedeutenden Teil der jüdischen Bevölkerung des Landes und besonders gegenüber den sephardischen Juden, den Falascha, den Mizrachim [35], den ultraorthodoxen Juden oder den vor kurzem eingewanderten russischen Juden, deren Lebensbedingungen in Israel gleichen jenen der ärmsten Proletarier überall sonst auf der Welt. Diese Armut und Segregation wird regelmässig von verschiedenen Organisationen wie Standing Together, der Association for Civil Rights Israel (ACRI), der Coalition against Racism usw. angeprangert und einige davon kämpfen Seite an Seite mit diesen Israelis „zweiter Klasse“. Und manchmal wird die Wut auf die Strasse getragen und mobilisiert diese jüdischen Bevölkerungen während Demonstrationen, wie im Sommer 2011 – aber aufgrund des grossen Einflusses des nationalen Mythos auf das Bewusstsein und der Furcht, als „Verräter der Nation“ zu gelten, geschieht das nur allzu selten.

Bezüglich des dritten Punkts scheint es mir weder nützlich noch würdig, gegen einen solch unwürdigen Ansatz zu argumentieren. Es scheint mir hingegen angebracht, hier zu betonen, dass die Hamas auch das Produkt der israelischen Politik und ein strategischer Verbündeter für die expansionistischen Ziele des hebräischen Staates ist. Direkt und indirekt hat die israelische Regierung die Entwicklung dieser nationalistischen und islamistischen Bewegung namens Hamas begünstigt. Indirekt durch ihre Raub- und Landbesetzungspolitik und durch die systemische und entsetzliche Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerungen. Und direkt als der israelische Staat die Hamas zur Schwächung der Palästinensischen Autonomiebehörde instrumentalisierte, indem er ihre (finanziellen, materiellen) Mittel [36] zur Beherrschung der von ihr kontrollierten Territorien verstärkte mit dem Ziel, jede Möglichkeit der Durchsetzung einer „Zweistaatenlösung“ zu durchkreuzen. Kurz verfügte wahrscheinlich nicht über diese genauen Informationen, als er seinen Artikel schrieb. Aber nur sein Beharren auf einer Verteidigung einer resolut pro-israelischen Position hat ihn dazu bringen können, die zahlreichen Quellen [37], die ab den 1990er Jahren erfolgreich die hegemoniale Erzählung der offiziellen Geschichtsschreibung des Zionismus und des Staates Israel zunichtemachten, zu ignorieren oder zu vernachlässigen.

Wir sollten schliesslich hier betonen, dass die immer ungestümere und heftigere Hartnäckigkeit zur Durchsetzung der Gleichung Antizionismus = Antisemitismus, sowohl seitens der israelischen Institutionen als auch der europäischen und US-amerikanischen Regierungsinstanzen, die auch kurz vollständig so vertritt, einhergeht mit der fast unabwendbaren Entwicklung der globalen geostrategischen Situation geprägt vom Niedergang der militärisch-wirtschaftlich-politischen Hegemonie des westlichen Blocks. Und sie entspricht auch – dialektisch verbunden mit dem ersten Punkt – der Schwächung des Einflusses der zionistischen Gründungsmythen („ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“, „der kleine jüdische David gegen den arabischen Riesen Goliath“, „wir sind alle allein, niemand wird uns je verteidigen“) auf das Bewusstsein der Bevölkerungen im Westen nach dem Ausbruch seit Ende 1987 der palästinensischen Erhebung genannt „Krieg der Steine“ in den besetzten Gebieten. Die in der Fussnote 37 erwähnten akademischen Studien widerspiegeln ebenfalls diese Entwicklung und stellen ein Echo darauf dar.

C – Anstelle einer Schlussfolgerung

Die Wertkritik hat durch ihren Aufruf, sich mit dem Kollektiv Golem für die Teilnahme an der nationalen Demonstration am letzten 12. November gegen den Antisemitismus zu solidarisieren, gezeigt, dass ihre Positionen zum Antisemitismus sie in die Arme jener Kräfte treibt, welche eine republikanische und demokratische Politik verteidigen, trotz der Tausenden Seiten Kritik, die sie produziert. Die Wertkritik hantiert mit klassenkampflosen Konzepten in ihren theoretischen Beiträgen, d.h. sie lehnt die Gültigkeit jener Analysen ab, welche sich auf den historischen und grundlegenden Antagonismus zwischen den beiden Klassen der kapitalistischen Gesellschaft, eine herrschende bürgerliche Klasse, die eine unterdrückte Klasse, das Proletariat, ausbeutet, als determinierend berufen. Für die Wertkritik hat sich der abstrakte Wert total von den Handlungen der Menschen befreit und setzt seine Notwendigkeiten zur Akkumulation auf autonome Art und Weise durch, indem er gebieterisch die gesamte Menschheit seinen Launen unterordnet, trotz der Aktivitäten der Menschen.

In logischer Verbindung mit ihren Positionen hinsichtlich des Antisemitismus hat der bekannteste Theoretiker der Wertkritik Robert Kurz mehrere Texte veröffentlicht, in welchen er zugunsten einer zwingenden und somit bedingungslosen Verteidigung des Staats Israel argumentiert. Im gegenwärtigen Kontext hat eine solche Positionierung zugunsten Israels eine besonders tragische Bedeutung, daher das ohrenbetäubende Schweigen der Wertkritik zur Situation im Nahen Osten. Ich denke, dass ich in diesem Text eine bedeutende Anzahl an Tatsachen und Argumenten geliefert habe, um zu zeigen, wie abwegig es ist, Robert Kurz und seine Genossen zu diesem Thema zu unterstützen. In der Perspektive einer gesellschaftlichen Befreiung vom Joch des Kapitalismus, und somit des Werts, der Arbeit und der Ware, ist es offensichtlich absurd, zu behaupten, die Verteidigung irgendeines Staates könne gleichbedeutend mit Emanzipation sein oder uns auch nur dorthin führen. Weder des Staates Israel, noch eines palästinensischen oder irgendeines Staates. Wie kann man nicht sehen, dass die Politik der beiden Entitäten, der israelischen und der palästinensischen, komplementär miteinander sind und heute zu den Massakern an den palästinensischen Bevölkerungen führen? Ist es notwendig, hier zu präzisieren, dass die dazu symmetrische Position, die Verteidigung der Zerstörung eines bestimmten Staates zugunsten der Gründung eines anderen, sich als genauso schädlich für jegliches emanzipatorisches Projekt erweisen wird? Unsere gemeinsame Menschlichkeit kann nicht in Strafkolonien namens Staaten eingesperrt werden.

In einer kommunistischen Perspektive der Emanzipation geht es darum, die Desertion der Proletarier von ihrer nationalen Bourgeoisie auf der Grundlage von grundsätzlich einander entgegengesetzten Klassenperspektiven zu begünstigen und für die Verbrüderung mit unseren Klassenbrüdern überall sonst zu kämpfen. Eine solche Perspektive scheint ziemlich offensichtlich im Falle des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, wo die Proletarier auf beiden Seiten der Front das gleiche vitale Interesse haben, dieser nur den Interessen des Kapitals (des Werts) und der Kapitalisten nützenden Schlachterei zu entkommen. Wo wir nur Kanonenfutter sind. Auch in Israel/Palästina kann und muss diese Perspektive verteidigt werden, auch wenn die Situation dort aufgrund des kolonialen Charakters Israels und seiner geopolitischen Position in der Region, die historisch zentral für die Interessen des westlichen Lagers ist, viel komplexer ist. Aufgrund der erdrückenden militärischen Überlegenheit Tsahals und der von ihr begangenen Massaker an den palästinensischen Bevölkerungen, der relativen soliden nationalen Kohäsion in Israel, der Fortsetzung oder gar Intensivierung der kolonialen Ansiedlungen im Westjordanland ist es eindeutig in diesem Land, wo für die Proletarier primär die Aufgabe besteht, den Kampf gegen „ihre eigene Bourgeoisie“, „ihre eigenen Anführer“, als Bedingung für eine Verbrüderung mit den palästinensischen Proletariern zu beginnen. Eine „primäre“ Aufgabe insofern, als auch genau dort diese Perspektive am weitesten entfernt scheint wegen der Kraft der nationalen Erzählung und ihres Einflusses über ihre Bürger.

Für die palästinensischen Proletarier scheint es nicht minder schwierig, sich gegen ihre Henker aufzulehnen. Denn ihnen steht nicht nur der israelische Staat mit aller Kraft seiner terroristischen Mittel gegenüber, sondern auch die „Widerstandsorganisationen“, allen voran die Hamas und die Palästinensische Autonomiebehörde, aber auch zahlreiche Organisationen des „islamischen Widerstands“. Doch wenn man berücksichtigt, wie sich die Hamas (im Gazastreifen) und die Palästinensische Autonomiebehörde (im Westjordanland) auf dem gleichen Terrain der Ausbeutung und Unterwerfung der Bevölkerungen unter ihrer Zuständigkeit austoben wie der Staat Israel, der ihnen die Kontrolle dieser Mission delegiert hat, wird es nicht nur realistisch, sondern wesentlich, die theoretischen und praktischen Ansätze zu verurteilen, welche Teil der innerbürgerlichen nationalistischen Polarisierungen sind [38] und uns nur Kriege um Territorien, Religionen oder Völker bringen.

Wäre es unrealistisch, eine Befreiung vom gefühlten Horror gegenüber der Politik der Anführer auf beiden Seiten und den sowohl von Tsahal als auch der Hamas begangenen Massaker in Betracht zu ziehen, um unsere Wut gegen die Verantwortlichen dieser gesamten Situation zu richten und die Verbrüderung zwischen jüdischen und palästinensischen Proletariern zu verteidigen?

Für die Wertkritik stellen solche Betrachtungen nur eine verwerfliche Subjektivierung der gesellschaftlichen Verhältnisse dar, sie bevorzugt es ihrerseits, sie als Teil einer „beherrschten Herrschaft, die nicht ihre eigene Grundlage ist“, sondern magisch vom kapitalistischen Fetischismus namens Wert beherrscht ist, zu analysieren. Daher kommt der erbärmliche Untergang der Theorie der Wertkritik auf heiligem Land.

Paris, Februar 2024.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle


[1Es handelt sich um den nationalen Marsch am Sonntag 12. November 2023 gegen den Antisemitismus, der von der Staatsgewalt orchestriert worden ist und zu dem die Präsidentin der Nationalversammlung Yaël Braun-Pivet sowie der Senatspräsident Gérard Larcher aufgerufen haben.

[2“Authorities have identified a total of 274 soldiers ans 859 non-soldiers killed during the brutal assault. The latter figure includes 57 Israel Police officers and 38 local security officers. It is unclear which of these individuals were on duty when killed. Removing those victims leaves a figure of 764 civilians.” The Times of Israel, 4. Dezember 2023.

[3Die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, hat schon den Tod von 92 ihrer 13‘000 im Gazastreifen präsenten Angestellten verkündet. „Wir hatten noch nie so viele getötete Kollegen“, betont die Sprecherin der Organisation, Juliette Touma. „Es ist eine beispiellose Bilanz für unser Hilfswerk, aber auch die gesamten Vereinten Nationen.“ Das Verhältnis der Toten unter den Angestellten, sagt sie weiter, stimmt mit den Zahlen des Ministeriums für die gesamte Bevölkerung überein, sie wird auf ungefähr 2.2 Millionen Bewohner im ganzen Territorium geschätzt. „Das lässt vermuten, dass die vom Gesundheitsministerium kommunizierten Zahlen relativ präzis sind“, erklärt sie. „Es handelt sich nicht um eine Bestätigung, sondern einen Hinweis.“ „Guerre Israël-Hamas : comment le bilan palestinien sur le nombre de morts dans la bande de Gaza est-il établi ?“, Franceinfo, 10.11.2023.

[4Text veröffentlicht in EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Heft 6, 2009, Robert Kurz, „Die Kindermörder von Gaza. Eine Operation ‚Gegossenes Blei‘ für die empfindsamen Herzen“.

[6Roswitha Scholz, „Editorial, offener Brief und Spendenaufruf“ in EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 17, April 2020.

[7Um hier vollständig klar zu sein, der Administrator der französischsprachigen Homepage Palim-Psao verbreitete eine Nachricht des Kollektivs Golem, deren Mitgründer (und auch Mitglied des RAAR) Jonas Pardo erklärte: „Ja, ich werde am Sonntag gegen den Antisemitismus auf die Strasse gehen. Ich bin gegenwärtig unzufrieden mit den Bedingungen, unter welchen dieser Marsch geplant ist. Einerseits wegen der Art des Aufrufs von Yaël Braun-Pivet und Gérard Larcher. Und natürlich wegen der Präsenz des Rassemblement national. Gemäss dem Aufruf marschieren wir nämlich, um die Werte der Republik zu verteidigen. Für mich ist das ein Narrativ, das die Bedeutung des Kampfes gegen den Antisemitismus aushöhlt. Zuerst einmal sind die Werte der Republik gemäss Renaissance nicht meine Werte, das ist eine Gewissheit. Seit der Abschaffung der Krankenversicherung für Migranten (AME) und der allgemeinen Verschärfung der Aufnahmebedingungen für jene, welche es brauchen, das sind nicht meine Werte. Die Rentenreform, die Prekarisierung der Prekärsten, das sind nicht meine Werte. Ich denke also, dass diese ‚Werte der Republik‘ ein nicht genau definierter Inhalt sind, wo man in Wirklichkeit reintun kann, was man will. Was übrigens der Grund ist, dass die äussere Rechte, Reconquête und Rassemblement national, an diese Demonstration gehen kann. Und die Frage ist, was der Kampf gegen den Antisemitismus in diesem Moment für mich bedeutet. Warum gehe ich hin? Und es sind zwei Dinge, sehr konkrete Dinge, der Kampf gegen Antisemitismus bedeutet die Verteidigung von lebenden Personen, Leute, die man Jüdinnen und Juden nennt. Das ist vor allem anderen der Kampf gegen Antisemitismus. Und dann ist es der Kampf gegen eine Weltanschauung. Eine Weltanschauung, die alles Unglück der Welt nicht auf ein System zurückführt, das toxisch und gestört ist oder für das man eine Alternative vorschlagen sollte. Sondern auf Individuen. Es ist die Personalisierung der Herrschaft. Und diese verschwörungstheoretische Weltanschauung ist jene der äusseren Rechten. Unterdessen benutzt Marine Le Pen mit ihrer Strategie der Entdiabolisierung nicht mehr die Worte ihres Vaters Jean-Marie Le Pen; sie spricht nicht mehr vom Weltjudentum. Sie sagt nicht mehr die Juden, sondern internationale Finanz, Kosmopolitismus, Globalismus, intellektuelle Eliten, alles Codewörter, welche die gleiche Weltanschauung vermitteln. Ich werde also Sonntag gegen den Antisemitismus und gegen die äussere Rechte auf die Strasse gehen, letztere war immer rassistisch und antisemitisch, ist es immer noch und wird es immer sein. Ich hoffe, dass die Linken zusammenstehen werden, um sie zu stören und zu versuchen, sie zum Schweigen zu bringen, oder gar sie aus der Kundgebung zu vertreiben.“ Auszug (1min39 bis 4min40), transkribiert von mir, aus einer Sendung #Lamidinale mit dem Interview des Gasts Jonas Pardo und dem Titel „Il y a un déni de l’antisémitisme à gauche“, Regards.fr, 11.11.2023.

[8Interview mit Clément Homs von Nicolas Basset: „Les vases vides font toujours beaucoup de bruit, 2ème partie. À propos de certaines incompréhensions au sujet du ‚Marx exotérique‘ et du ‚Marx ésotérique‘“. Veröffentlicht von Palim-Psao am 05.01.2016.

[9Interview mit Clément Homs von Nicolas Basset: „Les vases vides font toujours beaucoup de bruit, 1ère partie. À propos de certaines incompréhensions au sujet du ‚Marx exotérique‘ et du ‚Marx ésotérique‘“. Veröffentlicht von Palim-Psao am 03.05.2015.

[10Ein bisschen vorher in diesem gleichen Interview behauptet Clément Homs, dass die alterkapitalistische Linke „weiterhin den kollektiven Lynchmord der Beamten des Kapitals verteidigen oder behaupten“ muss, „dass man von den Reichen nehmen muss, um es den Armen zu geben, um besser die Zerstörung der kapitalistischen Verhältnisse durch die Einführung einer radikal neuen gesellschaftlichen Lebensform zu verhindern – [was] nicht ohne Abrechnungen und einen Widerstand mit Waffengewalt gegen die ‚profitierende Klasse‘ (unser alter Feind, die Bourgeoisie) wie auch die Segmente anderer Klassen (auch proletarischer), die sich mit der Kraft der letzten Hoffnung an der durch die kapitalistische Gesellschaftsform auf ihre Gesichter geritzte ‚Charaktermaske‘ (Marx) der modernen Subjektform festhalten werden, geschehen kann.“ Merken wir hier an, dass der Autor, indem er von der „profitierenden Klasse“ statt der bürgerlichen Klasse spricht, seinem eigenen Kampf gegen den Antisemitismus nicht wirklich behilflich ist.

[11Und hier denken wir natürlich an die weltweite Herrschaft dieser Königin aller Waren namens Geld.

[13Verweis auf das Buch von Samir Amin, Die ungleiche Entwicklung. Essay über die Gesellschaftsformationen des peripheren Kapitalismus, Hoffmann und Campe, 1975.

[14Diesbezüglich möchte ich das aufschlussreiche und störende Buch von Joseph Tonda erwähnen: Afrodystopie. La Vie dans le rêve d’Autrui, Karthala, 2021. Auf der Homepage Palim-Psao findet man überhaupt keine Rezension dieses Buches, obwohl es etwa zehnmal auf die Werke von Anselm Jappe (Die Abenteuer der Ware) und Robert Kurz (Die Substanz des Kapitals) verweist.

[15Robert Kurz, Ernst Lohoff, „Der Klassenkampf-Fetisch. Thesen zur Entmythologisierung des Marxismus“ in Marxistische Kritik, Nr. 7, 1989.

[16Man kann hier an diese Episode, ein Beispiel unter hunderttausend anderen, zurückdenken, als eine französische Aussenministerin ungeschickt genug war, um in der Nationalversammlung öffentlich zu verkünden, dass Frankreich dem tunesischen Regime (und bei gleicher Gelegenheit Algerien) seine Zusammenarbeit (die jedoch bereits auf permanente und institutionelle Art und Weise existiert) und sein „weltweit anerkanntes Know-how“ hinsichtlich der Repression gegen heftige Demonstrationen, die das Land erschütterten und damals (Ende 2010) das Regime Ben Alis und seines Klans in Gefahr brachte, angeboten hatte. „Wir sind bereit, die Ausbildung der tunesischen Ordnungskräfte zu unterstützen, wie wir das auch für andere Länder tun“, hatte damals Michèle Alliot-Marie erklärt. Ist es wirklich notwendig, hier an die transnationale Operation Condor Mitte der 1970er Jahre auf dem amerikanischen Kontinent, die zur terroristischen Repression gegen die Gesamtheit der Kämpfe und Proteste des Südkegels unter der Ägide der USA führte, zu erinnern!? Es war die Epoche, während welcher das französische Know-how im Bereich der Folter und des Verschwindenlassens als Kriegstechniken der Aufstandsbekämpfung in den wichtigsten Militärakademien Amerikas studiert wurde.

[17Ich finde den Verweis auf der Homepage Palim-Psao auf den Text, in welchem der Autor von dieser „rassistischen portugiesischen Abwartin“ (hallo Klischee) spricht und sie – kaum als Metapher – im gleichen Atemzug mit dem Geschäftsführer einer multinationalen Firma erwähnt, um zu illustrieren, wie die beiden „sich mit der Kraft der letzten Hoffnung“ an ihrer gesellschaftlichen Bedingung unter dem Kapitalismus „festhalten werden“, nicht mehr.

[18Man urteile aufgrund dieser Zitate aus einem kurzen Text von Benoît Bohy-Bunel, veröffentlicht auf Palim-Psao: „Contre la bêtise savante de Temps critiques (À propos des frères Jacques, etc.)“: „Die Wertkritik wendet sich auch gegen jegliche pseudokritische Theoretiker, die heutzutage auf binäre und grob vereinfachende Art und Weise die Kritik der logischen Kategorien (Wert, abstrakte Arbeit, Geld, Ware) und die Kritik der empirischen, von diesen Kategorien angenommenen Formen (Löhne, Ausbeutung, Preise, Ungleichheiten) einander entgegensetzen, da sie davon ausgehen, dass die Thematisierung ersterer das Nachdenken über letztere verhindert, und somit, dass ein zerstückelter und konfuser, dumm beschreibender oder entgeistert ‚pragmatischer‘ Standpunkt der einzig angemessene sei (man denke an den dürftigen Artikel, in welchem die Autoren schamlos ihre Borniertheit zur Schau stellen: ‚Les impasses de La Grande Dévalorisation‘, November 2016, von Jacques Guigou und Jacques Wajnsztejn) […] Empirische und logische Kritik sind einander jedoch nicht entgegengesetzt, sie komplettieren sich; die Formel G-W-G’ zeigt sehr gut und auf synthetische Art und Weise, dass man nicht einen dieser beiden Aspekte isolieren kann. Jene hingegen (wie Guigou und Wajnsztejn), welche dem kontingenten Empirischen den Vorrang geben wollen, verzichten auf eine einheitliche und totalisierende Kritik und sind epistemologisch albern (um eine Hegelsche Idee aufzugreifen, sie unterbreiten eine Gesamtheit zerstreuter Ideen, eine reine Extension, der es an der Kraft zu ihrer Vereinigung mangelt). Ihre Art und Weise, ‚Lektionen zu erteilen‘, erinnert an die Torheit des Toren, der seinem Gesprächspartner vorwirft, er sei selbst dumm, unter dem Vorwand, dass er seine begrenzten und partiellen Ansichten nicht teile […] Es ist schwierig, mit einer solch ‚gelehrten‘ Dummheit zu kommunizieren (die übrigens umso dümmer ist, weil sie sich für gelehrt hält). Man wird beiläufig bemerken, dass diese Theoretiker ‚kritischer Zeiten‘ scheinbar schon fast die wirre Ideologie eines ‚kognitiv‘ gewordenen Kapitalismus für ‚gültig erklären‘ (wenn sie sich nur klar ausdrücken könnten) und somit mehr die ‚technische‘ Zusammensetzung des Kapitals und nicht seine organische Zusammensetzung betonen […] Denn die Frage der transzendentalen Empirizität des ‚esoterischen‘ Marx entgeht ihnen vollständig und sie glauben, mit Selbstgefälligkeit für sie viel zu komplizierte Probleme regeln zu können.“

[19Man findet auf Palim-Psao die Spur einer Teilnahme der Wertkritik an einer „Mobilisierung der treibenden Kräfte zur Ko-Organisation der ‚Rencontres Raisons Sensibles‘“, die in Toulouse vom 1. bis 12. Juni 2022 stattfanden. Diese Initiative hatte zum Ziel, „rund um vollendete oder unvollendete Werke, künstlerische Laboratorien, theoretische und aktivistische Treffen, zwischen professionellen und studentischen Vorschlägen, rund um die plastische Kunst, das Theater, den Tanz, die Performance, die Klangkunst, die Poesie, den Film“, die Begegnung von „menschlichen Erdbewohnern, die Theater, Zeichnungen, Gravuren machen, Texte schreiben, Verlage haben, Klang erschaffen, Filme drehen, theoretisieren, kämpfen, studieren, depressiv sind, graue Haare, Geschwüre haben […]“ zu ermöglichen. Auszug aus dem Präsentationstext der Rencontres Raisons Sensibles auf der Crowdfunding-Online-Plattform Helloasso.

[20Man stellt sich die Frage, wie die Autoren solcher Anschuldigungen sich anzustellen gedenken, um eine derartige Obsession für den Populismus zu widerlegen oder überwinden, da für die Wertkritik die Feststellung, „dass es auch Verantwortlichkeiten von gewissen Individuen und Gruppen gibt“, automatisch zu Antisemitismus führt!? Wie werden sie es anstellen, da sie „nach Schuldigen“ suchen, um nicht einem „[sich breit machenden] (Vulgär-)Marxismus der Personalisierungen“ zu verfallen, für welchen „die Kapitalisten, Spekulanten und Investoren das Feindbild sind, was freilich einen strukturellen Antisemitismus beinhaltet“, wie es Roswitha Scholz für die Redaktion von Exit! formuliert hat?

[21Gesetz Nr. 90-615 (genannt Gayssot-Gesetz) vom 13. Juli 1990, das die Anfechtung „der Existenz eines oder mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und die Negation oder Verharmlosung der von den Nazis begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Straftat qualifiziert. Sie wird mit einem Jahr Gefängnis oder einer Busse von 45‘000 € bestraft.

[22Wir erinnern uns an diesen ehemaligen französischen Premierminister, selbstverständlich gänzlich unbescholten, der im Senat bezüglich des terroristischen Angriffs im Hyper Cacher (Januar 2015) erklärt hatte, dass er „jene“ satthabe, „welche permanent Entschuldigungen oder kulturelle oder soziologische Erklärungen suchen […], denn erklären bedeutet schon ein bisschen, dass man es entschuldigen will“.

[23CRIF: Repräsentativer Rat der jüdischen Institutionen in Frankreich; UEJF: Union der jüdischen Studenten Frankreichs; B’nai B’rith Frankreich: die wichtigste weltweite jüdische Organisation, gegründet 1843 in New York und mehrere Logen wurden ab 1932 in Frankreich gegründet; Vereinigung Frankreich-Israel: Freundschaftsgruppen Frankreich-Israel der Nationalversammlung und des Senats.

[24Aber in Israel seien diese Foltermethoden nicht wirklich Folter, es seien nur „gemässigte körperliche Druckmittel“ gemäss der Landau-Doktrin, die „Befragungsmethoden“ wie die Beibehaltung des Gefangenen in schmerzhafter Position, die Aufsetzung einer Gesichtsmaske, laute Musik während einem längeren Zeitraum, Schlafentzug während einem längeren Zeitraum, Drohungen, besonders Todesdrohungen, heftiges Schütteln und Lähmung durch kalte Luft empfiehlt – Praktiken, von denen Israel nicht bestreitet, dass sie regelmässig eingesetzt werden. Man will kaum mehr wissen zu jenen Foltermethoden, deren Einsatz Israel bestreitet…

[25Es ist gewiss nicht zwecklos, hier anzumerken, dass die gleichen „psychologischen“ Mechanismen (Verteidigung seiner eigenen Identität und Ablehnung der „Bedrohungen“, die diese infrage stellen könnten) eine zentrale Rolle in der sektiererischen Abschottung spielen, häufig in Organisationen oder Gruppen von Aktivisten beobachtet, umso mehr in Zeiten des sozialen Friedens, wenn die Isolierung und Atomisierung weitgehend dominieren.

[26Diese Formulierung „sogar wenn wir dagegen kämpfen“ führt in die Irre, denn sie kann so verstanden werden, dass es eine spezifische Aktivität („kämpfen“) neben anderen Aktivitäten betrifft, eine Aktivität, die sich nur bemerkbar mache, wenn sie sichtbar und offen ist („der Kampf“). Doch sie muss vor allem als alltägliche Aufgabe verstanden werden, denn alle Aktivitäten unserer Leben als Proletarier (von unserer Geburt bis zu unserem Tod) – sogar wenn wir die uns langsam tötende verschmutzte Luft atmen – stellen einen Kampf dar, um schlichtweg zu leben.

[27Im Jahr 1897 versammelt sich der erste Zionistenkongress in Basel, präsidiert von Theodor Herzl. Nathan Birnbaum kann als erster zionistischer Intellektueller betrachtet werden (er sei ab 1886 der Erfinder des Konzepts „Zionismus“ gewesen). Gemäss seinen Theorien könne nur die Biologie, und nicht die Sprache oder die Kultur, die Herausbildung von Nationen erklären; ohne sie könnte man den Ursprung einer jüdischen Nation, deren Mitglieder verschiedenen volkstümlichen Kulturen angehören und unterschiedliche Sprachen sprechen, nicht verstehen.

[28Dieses Telegramm war „alles andere als eine Ungeschicklichkeit oder ein isolierter Akt, es war das Resultat einer bewussten Entscheidung Herzls, die darin bestand, um die Unterstützung des Sultans zu werben, ohne ihm das Massaker an den Armeniern übelzunehmen. Es folgt auf die Audienz, die Herzl vom Sultan etwas vorher, am 18. Mai 1901 in Istanbul, erhalten hatte, während dieser war er von ihm mit dem Mecidiye-Orden ausgezeichnet worden und hatte er ihm auf ostentative Art und Weise die Ehre erwiesen. Auf sie folgten bis zum Kongress sechs Briefe Herzls an den Sultan, in welchen er ihm seine Dienste anbot, besonders jenen, in Europa den Schriften eines Oppositionellen im Pariser Exil, der in der europäischen Presse die Autokratie des osmanischen Regimes kritisierte und freie Wahlen und eine Verfassung verlangte, entgegenzuwirken. Herzl hatte sich zu seiner Unterstützung des Sultans während seiner Eröffnungsrede am fünften Zionistenkongress bekannt […] ‚Man hat mir gesagt, dass es in Paris einen Schriftsteller gebe, den Herrn Ahmed Riza, der durch seine Angriffe auf die Reichsregierung bekannt worden ist. Man sagte mir, dass man diese Angriffe durchkreuzen könne […] falls Eure Imperiale Majestät es für nützlich erachtet, werde ich mich darum kümmern, und selbstverständlich würde ich für die Beendigung dieser Angriffe keine Belohnung akzeptieren, ausser ein Wort der Zufriedenheit Eurer Imperialen Majestät, das für mich die höchste aller Belohnungen ist.‘ (Brief von Theodor Herzl an den Sultan vom 17. Juni 1901, Zionistisches Tagebuch 1899-1904, Bd. 3, S. 303.) Ahmed Riza Bey (1859-1930) war ein Liberaler in Opposition zum Sultan, er hatte in Paris die zweisprachige, französische und türkische Zeitung Mesveret-Consultation gegründet. Er kehrt 1908 in die Türkei zurück und wird 1918 zum Senatspräsident gewählt.“ Gilles Manceron, „Introduction. L’universalisme en question : l’Affaire comme référence et comme modèle“ in Être dreyfusard. Hier et aujourd’hui, Presses universitaires de Rennes, 2009, S. 419-488.

[29„Ich habe Plehwe getroffen. Ich habe sein Wort, dass er in spätestens 15 Jahren eine Charta für uns für Palästina erstellen wird. Aber es gibt dafür eine Bedingung: Dass die jüdischen Revolutionäre ihren Kampf gegen die russische Regierung beenden.“ Zitiert in Samuel Portnoy, Vladimir Medem: The Life and Soul of a Legendary Jewish Socialist, KTAV Publishing House, 1979.

[30Zitiert in Nur Masalha, Expulsion of the Palestinians. The Concept of ’Transfer’ in Zionist Political Thought. 1882-1948, Institute for Palestine Studies, 1992.

[31Dieses Argument greift Kurz in seinem Artikel auf. Auch für ihn hat die Gründung des Staates Israels ihre Kraft und ihre Bedeutung aus der Shoa erlangt. Israel sei dieses für vom weltweiten Antisemitismus verfolgte Juden immer offenstehende Refugium.

[32Shlomo Sand, „Post-sionisme : un bilan provisoire. À propos des historiens ‚agréés‘ et ‚non agréés‘ en Israël“ in Annales. Histoire, Sciences sociales, Nr. 1, 2004.

[33Diese Passagen musste ich wieder und wieder lesen, um sicher zu sein, dass das dort geschrieben stand!

[34Doch diese von den Experten der OECD erstellten Statistiken (Zahlen von 2020) ignorieren das Elend und die Armut, die das Los der im Gazastreifen und im Westjordanland lebenden Bevölkerungen sind, deren zügellose Ausbeutung substanziell zum Wohlstand des Landes beiträgt.

[35Falascha- oder Etiopim-Juden: ursprünglich aus Äthiopien stammende Juden. Die Falascha Mura haben die gleiche Abstammung wie die Etiopim, doch sie hatten zu einem gewissen Zeitpunkt ihrer Geschichte (19. Jahrhundert) zum Christentum konvertiert, bevor sie sich wieder auf ihre Zugehörigkeit zum Judentum beriefen. Mizrachim-Juden: Bezeichnet eine bunt zusammengewürfelte Menge jüdischer Gemeinschaften aus dem Nahen Osten, dem Kaukasus und dem Rest Asiens. Die „Schwarzen Panther Israels“ entstanden innerhalb dieser Bevölkerung ab 1971.

[36Auszug aus dem Artikel in Haaretz vom 20. Oktober 2023 „A Brief History of the Netanyahu-Hamas Alliance“: „In Wirklichkeit war das Regime der Hamas seit der Operation ‚Gegossenes Blei‘ Ende 2008-Anfang 2009 in der Olmert-Ära mit keiner wahrhaften militärischen Bedrohung konfrontiert. Im Gegenteil: Die Gruppe wurde vom israelischen Premierminister unterstützt und mit seiner Hilfe finanziert. Als Netanyahu im April 2019, wie er es nach jeder Serie von Kämpfen tat, erklärte, dass ‚wir die Abschreckung mit der Hamals wiederhergestellt haben‘ und dass ‚wir die wichtigsten Versorgungsrouten blockiert haben‘, log er wie gedruckt. Seit mehr als einem Jahrzehnt hat Netanyahu in mehrerer Hinsicht die zunehmende militärische und politische Macht der Hamas tatkräftig unterstützt. Es war Netanyahu, der die Hamas von einer terroristischen Organisation mit geringen Mitteln in einen halbstaatlichen Organismus verwandelt hat.“

[37Simha Flapan, Birth of Israel. Myths and Realities, Routledge, 1988. Auf der Grundlage der freigegebenen Archive zum Krieg 1948 gelingt es Flapan, die offizielle Version des zionistischen Mythos zu widerlegen und somit die Erlebnisse der palästinensischen Bewohner, die von ihrem Land durch die Massaker und Beraubungen der zionistischen Siedler verjagt wurden, zu bestätigen. Mit seinen Werken ebnete er den Weg für die gegenüber der offiziellen Geschichtsschreibung kritisch eingestellten Historiker, die als „neue Historiker“ bezeichnet worden sind, im Folgenden einige Namen:

Avi Shlaim, Collusion across the Jordan. King Abdullah, the Zionist Movement and the Partition of Palestine, Oxford University Press, 1988;

Ilan Pappe, Britain and the Arab-Israeli Conflict. 1948-1951, London, McMillan/St. Anthony’s, 1988.

Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem. 1947-1949, Cambridge University Press, 1988.

[38Zu diesem Punkt kann ich die Lektüre des Interviews mit Emilio Minassian vom 30. Oktober wärmstens empfehlen, es wurde auf dem Blog Le Serpent de Mer veröffentlicht und liefert eine pointierte Analyse der Situation im Gazastreifen: Eine extreme Militarisierung des Klassenkrieges in Israel-Palästina“.