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Die Ladenschlüssel [zu den vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich]

Sonntag 14. Juli 2024

Dieses Flugblatt, inspiriert vom Text hier, wurde gestern Samstag [06.07.24] in Marseille geschrieben und verteilt.

Der Hauptfeind?

Der Rassemblement national (RN) ist die erste Partei für Arbeiter, Angestellte und Arbeitslose, wir werden uns ihr dennoch nicht anschliessen und uns noch weniger darüber freuen. Aber wir schauen die Dinge an, wie sie sind: Die Proletarier sind weder abgelenkt noch manipuliert worden.

Der Kampf gegen den „extremen Rechtsrutsch“ eines grossen Teils der Arbeiterklassen überall in der westlichen Welt und ihren Nationalismus überall auf der Welt kann nicht im Namen einer Verblendung oder eines „Irrtums“ geführt werden. Wenn der RN zum Hauptfeind geworden ist, dann nur getragen durch „gewöhnliche“ Politiken und Massnahmen der Rechten oder Linken, welche die Ausbeutung verstärkt, die Lage der Arbeitslosen und Rentner angegriffen, die „Ausländer“ egal welcher Nationalität „gekärchert“ haben. Diese Politiken haben aus dem RN jene Partei gemacht, welche in der Lage ist, eine sowohl erträumte als auch nationale „Arbeiterwürde“ zu repräsentieren. Und so ist der RN zum politischen Ausdruck dieser „Würde“ geworden, indem er eine effiziente nationale Identität propagiert, genährt vom „Gefühl des Niedergangs“, dem Rassismus und der Staatsbürgerschaft.

Die Linke?

Die linken politischen Kräfte waren mehrheitlich nicht die Aufnahmebehälter für diese „Arbeiterwürde“, die „Deklassierung“, die „Unzufriedenheit“ und den mit Füssen getretenen „Wert der Arbeit“.

Um Zugang zur Macht zur erhalten, haben sich diese Kräfte auf die Mittelklassen mit starkem intellektuellem (universitärem) Kapital gestützt, so sind sie zu den zentralen Ideologen und Akteuren der Globalisierung der Wirtschaft in den 1990er-2000er Jahren geworden. Delors war Präsident der Europäischen Kommission, Lamy der WTO, Strauss-Kahn des IWF. Diese Kräfte waren die Agenten aller mit der weltweiten Ausbeutung der Arbeitskraft verbundenen Ungerechtigkeiten, in bester Eintracht mit den gewöhnlichen rechten Parteien.

Überall verstärkt sich der Protektionismus, auch militärisch, die neuen Formen der Globalisierung werden allem Anschein nach handfest und holprig sein. Wenn in der gegenwärtigen Krise der Globalisierung die Nation und die Staatsbürgerschaft als „Festung“ und als „natürlicher“ Rahmen für die Kämpfe und die „Unzufriedenheit“ erscheinen, so sind die Rechte und die extreme Rechte insofern viel glaubwürdiger, als sie das nationale Thema erstarren lassen, indem sie es kulturell ethnisieren.

Die Ladenschlüssel überlassen?

Zwischen den „Patrioten“ und den „Globalisten“ (um die Begriffe des RN zu übernehmen) sind die „Globalisten“ unter gewissen Bedingungen bereit, die Ladenschlüssel den „Patrioten“ zu überlassen, insoweit als sie die Krise der Globalisierung verwalten werden.

Nachdem sie all ihre Themen aufgenommen haben, spielen die herrschenden Klassen mit ihren verschiedensten Fraktionen – die solide verankerte Grossbourgeoisie, die neuen milliardenschweren Führer der Tech-Industrie, das Finanzkapital, die Multinationalen der Industrie – die Karte der extremen Rechten als Instrument einer nationalistischen Politik gegenüber der Krise der Globalisierung, indem ihr „Programm“ abgemildert und angepasst wird (siehe Italien, Schweden, Niederlande u.a.). Aber vor allem ist die extreme Rechte der Ausdruck des verwirklichten Monopols auf „die Volksopposition“, indem sie „das Volk“ im Namen der Nation in der Restrukturierung der Globalisierung bindet und mobilisiert. Wenn die Verheerungen dieser Restrukturierung sich zeigen werden, wird sie mutmasslich am besten dazu in der Lage sein, die Kämpfe zu kontrollieren und sie in die schlimmsten Richtungen zu lenken.

Der Nationalstaat betritt wieder die Bühne, sowohl für die herrschende Klasse als auch für die ausgebeuteten Klassen, die in diesem nationalisierten Kontext in die Politik der herrschenden Klassen selbst verwickelt werden.

Hegemonie und Monopol auf Kämpfe?

Mit dem Zerfall der „Arbeiterbewegung“, ihrer Instanzen und Institutionen ist die repräsentative Demokratie zusammengebrochen. Die „Proteststimmen“ des Beginns der 2000er Jahre sind nicht verschwunden, doch sie sind in den 2010er und 2020er Jahren zu einer Zustimmung geworden. Das zeigt sich in Form der „nationalen Werte“ und der Republik, an welchen sich alle berauschen, indem sie sie alle mit leicht unterschiedlichen Inhalten füllen, die herrschende Klasse hat eine Art Monopol auf die Klassenwidersprüche im Zusammenhang mit allen Massnahmen, die sie gegenüber den beherrschten Klassen (in erster Linie die aktive oder arbeitslose Arbeiterklasse) ergreift, und den damit verbundenen Reformen, indem sie auf der Welle der rassialisierten Arbeitsteilung reitet. Mit der Nation besteht die Hegemonie der herrschenden Klasse darin, den beherrschten Klassen die Begriffe selbst ihrer Opposition aufzuzwingen. Dieser mittlerweile unausweichliche Rahmen, der die nationale Identität darstellt, bearbeitet vom Klassenkampf, geht jedoch unterschiedslos von der „nationalen Souveränität“ zur „Volkssouveränität“ über. Erinnern wir uns an die Gelbwesten.

Was das Monopol auf den von ihr ausgelösten Widerspruch für die herrschende Klasse untergräbt, ist die Tatsache, dass das „souveräne Volk“ nicht „eins“ ist. Der materielle Rahmen dieser „Souveränität“ ist nicht die Politik, sondern das alltägliche Leben. In ihrer „Einzigkeit“ wird die Souveränität vom Preis der Joghurts, der Polizeigewalt, dem mit den Ausbeutungsbedingungen gleichbedeutenden Chaos der Spaltungen aufgerieben. Und in seinem alltäglichen Leben, wenn seine Kaufkraft zusammenbricht, hat das „souveräne Volk“ Zweifel bezüglich seiner „Souveränität“. Was das „souveräne Volk“ ebenfalls untergräbt, ist die Tatsache, dass sich an seinen Rändern, aber sehr nahe, konstant die rassialisierten und überschüssigen Bevölkerungen befinden, sie sind die konstante und lebendige Proklamation der „Unwirklichkeit“ seiner Existenz als „souveränes Volk“ und erinnern es daran.

Das „souveräne Volk“ des Nationalismus der extremen Rechten hat noch ein anderes Problem: Die Heftigkeit seines Antifeminismus und seiner Homophobie schreckt auch vor einem Verbot des Rechts auf Abtreibung nicht zurück. Natürlich schlägt der RN leisere Töne an, aber das gilt nicht für die Fratelli d’Italia oder die Liga in Italien, auch nicht für die Vox in Spanien oder die AfD in Deutschland. Der Nationalismus mag die Frauen an ihrem Platz und somit den Feminismus nicht. Der Nationalismus muss eine homogene nationale Identität hervorbringen, die schwierig in diesen Mechanismus integrierbaren Ausländer oder Frauen müssen entweder zurückgewiesen oder unsichtbar gemacht werden. Es waren die Mobilisierungen der Frauen, die weitgehend dazu beigetragen haben, die Mehrheitsverhältnisse in Polen umzudrehen.

Nur gegen den Islam beruft sich der Nationalismus auf die Freiheit der Frauen.

Der RN, eine Falle?

Wenn die Besonderheiten der Politik der extremen Rechten, ihr Rassismus, die physische und materielle Gefahr für all jene, welche nicht die richtige Hautfarbe haben, bekämpft werden müssen, dann muss dabei die Tatsache betont werden, dass sie der Ausdruck der Gesamtheit der herrschenden (wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, ideologischen, administrativen und politischen) Klasse sind. Einfach gegen den RN zu sein, bedeutet, in die „Falle“ des Monopols und der Hegemonie zu geraten. Genau in diesem Monopol können jedoch schnell die Widersprüche auftauchen: die im Volk verbreitete Enttäuschung gegenüber dem von der herrschenden Klasse zur Schau getragenen und praktizierten Nationalismus, der letztendlich zwingend für das „Volk“ eine Dimension der sozialen Katastrophe annehmen wird; das unmögliche Ausblenden jener, welche als rassisch „anders“ designiert werden, und die An-/Abwesenheit der Frauen.

Das „souveräne Volk“, das von diesen grundlegenden Widersprüchen durchdrungen ist, kann explodieren und viele Überraschungen bereithalten.

Mehr dazu: siehe die Homepage Des nouvelles du front

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle