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Tristan Leoni - Kalifat und Barbarei (vierter Teil)
Mittwoch 24. April 2019
Kalifat und Barbarei: Der Endkampf?
„Allmählich erstelle ich die Liste des Alphabets der Ruinen. All das bedeutet etwas.
Das kann nicht keinen Sinn haben.
Der Krieg spricht zu uns….“
David B., La Lecture des ruines, 2001.
Kann man in den Ruinen wie in den Linien einer Hand lesen? Die politische Hauptstadt des Islamischen Staates (IS) ist am 17. Oktober 2017 gefallen, ein vorhersehbarer Ausgang einer Schlacht, die vier Monate zuvor wirklich begonnen hat. Man sieht jedoch keine laut jubelnde Menschenmenge zum Empfang der Befreier in den Strassen und das hat seine Gründe. Während diesem Zeitraum ist die Bevölkerung von 300‘000 Einwohnern (wovon ein Drittel Flüchtlinge waren) auf fast null geschrumpft. Das Lager des Guten ist präzis und gibt an, dass nur 1‘000 bis 2‘000 Zivilisten unter den Bombenangriffen gestorben sind; die anderen sind vor der Annäherung der Kämpfe geflohen und versuchen heute auf den Strassen oder in den Flüchtlingslagern zu überleben.
Die Eroberung Raqqas ist höchst symbolisch, denn die Stadt, unter der Kontrolle des IS seit Juni 2013, war seine politische Hauptstadt gewesen (obwohl seine Verwaltung einige Monate zuvor nach al-Mayadin, auf dem Euphrat 175 km flussabwärts, transferiert worden war). Einen Monat später war eine strategisch bedeutende Schlacht in Abu Kamal – auf welche wir zurückkommen werden – gleichbedeutend mit dem Ende des Kalifats als protostaatliches territoriales Gebilde. Der Zusammenbruch des IS scheint eine Klammer zu schliessen, jene der Konfrontation zwischen dem Bösen und dem Rest der Welt; von nun an wird die syrische Aktualität wieder jene des ursprünglichen Konflikts sein, dieses Bürgerkrieges, welcher auf die sozialen Proteste 2011 folgte und sie beendete [1]. Trotz einem Jahre andauernden Prozess der Libanonisierung und Konfrontationen zwischen Hunderten von mehr oder weniger durch ausländische Mächte unterstützten Milizen und bewaffneten Gruppen nähert sich der Konflikt seinem Ende.
Die Proletarier hatten die Wahl, sich ganz klein zu machen, auszuwandern oder ein Lager zu wählen (der Soldatenberuf hat, als einziger in der Region, den Vorteil, einem einen Lohn und eine Mahlzeit zu verschaffen). Doch von nun an bereitet sich jeder in Anbetracht der sich nähernden Normalisierung auf eine rationalere und klassischere Ausbeutung dieser Arbeitskraft vor, von welcher man annimmt, dass sie vom Bombenhagel und den Ruinen gefügig gemacht worden ist.
Torloses Remis, der Ball im Mittelfeld?
Die Partie ist gespielt; die Ausschaltung der islamistischen Milizen in den östlichen Quartieren Aleppos im Dezember 2016 ist der Wendepunkt gewesen. Das Regime in Damaskus wird bleiben und das vom Krieg zerstörte Syrien wird in (russische, türkische oder amerikanische) Einflusszonen unterteilt werden; die Kämpfe von 2017, und wahrscheinlich auch jene 2018, gehen nur darum, die Umrisse davon zu präzisieren. Der Erfolg des loyalistischen Lagers, der nicht weit von einem Pyrrhussieg entfernt ist, ist v.a. ein Erfolg Russlands. Mit einer beschränkten (und somit relativ günstigen) militärischen Präsenz bestätigt Russland seinen Einfluss im Land, verkauft zunehmend Waffen in der Region und stärkt seinen internationalen Einfluss, indem es sich als unumgehbare Macht im Nahen Osten und in der östlichen Mittelmeerregion positioniert. Die Effizienz seines Expeditionskorps wird nämlich mit diplomatischen Durchbrüchen komplettiert: Moskau umgeht die fruchtlosen Verhandlungen in Genf und nimmt ab Januar 2017 den Friedensprozess in Syrien in die Hand, indem es Diskussionsrunden in Astana mit dem Iran, der Türkei und gewissen islamistischen Rebellengruppen lanciert. Der andere grosse Sieger ist der Iran, welcher seinen Einfluss sowohl in Syrien als auch im Irak vergrössert, genau wie in einem geringeren Ausmass sein Verbündeter, die libanesische Hizbollah. Die Türkei hat sich schliesslich im Sommer 2016, nach vielen diplomatischen Sinneswandeln, dem Trio Russland-Iran-Syrien angenähert, sie versucht ebenfalls, sich als unumgehbaren Akteur in der Region durchzusetzen (sei es nur durch die islamistischen Milizen und den Territorien, die sie nun im Norden Syriens kontrolliert). Das zeigt auch jenen, welche daran gezweifelt haben mögen, dass wir es offensichtlich nicht mit einem konfessionellen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zu tun haben.
Die USA (und ihre westlichen Aushilfskräfte) behalten vorsichtig, obwohl sie marginalisiert sind, da sie nie eine wahrhafte Strategie in Syrien hatten, und im Gegensatz zu Trumps Versprechen, einen Fuss in der syrischen Tür. Auf günstige Art und Weise schaffen sie sich eine Einflusszone, deren einziges Interesse es ist, zu verhindern, dass der russisch-iranische Sieg total ist, und somit Israel und Saudi-Arabien zufriedenzustellen. Donald Trump, den einige als „islamophob“ bezeichnen, wird vom Prinz Mohammed ben Salman mit dem Titel „wahrer Freund der Muslime“ beehrt.
Die rivalisierenden Kräfte
Das Kalifat
In dieser Mischung zwischen Schach und Poker, zu welcher der syrische Konflikt geworden ist, hielt der IS gute Karten in den Händen (Territorien, Städte, Strassen und strategische Standorte, Luftstützpunkte, Erdölquellen usw.); für die anderen gegen ihn verbündeten Spieler geht es darum, ihm ein Maximum an Karten abzunehmen, die in einer nahen Zukunft im Rahmen von Verhandlungen getauscht werden können. Daher kommt das Gewühl, das wir seit einem Jahr beobachten können.
Ab Sommer 2016 ist das Territorium des IS aufgrund der Vorstösse aller Armeen der Region (türkische, kurdische, syrische, irakische usw.) zusammengeschrumpft, bis es im Juli 2017 zum Verlust von Mosul und im Oktober zu jenem von Raqqa kam. Er war trotzdem bis zum Ende fähig, heftige Gegenoffensiven hinter den Feindeslinien oder an ihren Flanken zu lancieren und gleichzeitig seine Hochburgen bis zu ihren letzten Kämpfern zu verteidigen. Gemäss eher hohen Schätzungen zählte er 2014 zwischen 80‘000 und 100‘000 Soldaten in seinen Reihen; im Sommer 2017 waren es wahrscheinlich nur noch etwa 10‘000. Die amerikanische Armee spricht von 80‘000 getöteten IS-Kämpfern seit 2014! Zum Zeitpunkt, wo wir diese Zeilen schreiben, beschränkt sich die Armee des Kalifats auf einige Tausende in der Wüste, den Bergen und im Hinterland des Iraks und Syriens zerstreute Anhänger. Doch, obwohl die Offiziere des IS, gepaart mit dem Fanatismus ihrer Truppen, echte militärische Qualitäten gezeigt haben, muss diese langsame Agonie auch mit der schwachen Koordination seiner sich gegenseitig Steine in den Weg legenden Feinde erklärt werden.
Obwohl der im Kalifat aufgebaute Verwaltungs-, Wirtschafts- und Sozialapparat methodisch durch westliche Luftschläge angegriffen wurde [2], um die Bewohner zum Aufstand zu animieren, ist es nicht zu grossen Revolten gekommen (die Zerstörungen führten womöglich gar dazu, dass die Bevölkerung noch abhängiger vom Protostaat wurde). Bis zum letzten Moment, und besonders durch nackten Zwang, hat es der IS geschafft, die Kontrolle über seine Truppen und seine Bevölkerung zu behalten; dazu kam die Furcht vor den Befreiern, mögen sie schiitisch (in Mosul) oder kurdisch (in Raqqa) gewesen sein. Die Stämme haben den definitiven Eigentümerwechsel abgewartet, bevor sie ihren Treueeid modifizierten.
Die militärische Niederlage ist allerdings nicht gleichbedeutend mit dem Ende des IS; Abu Mohammed al-Adnani, der Sprecher der Organisation, warnte im Mai 2016: „Werden wir besiegt und ihr siegreich sein, wenn ihr Mosul, Raqqa oder Sirte erobert? Selbstverständlich nicht. Die wahre Niederlage wäre der Verlust des Kampfeswillens.“ Die mit Propaganda beauftragten Kader haben sich in ihren Studios und Büros in Raqqa abgemüht, um eine Legende zu erschaffen, die andauern und künftigen Jihadisten als Referenz dienen wird. Obwohl er anfangs einen sehr lokalisierten, territorialisierten Jihadismus unterstützte und in einer eschatologischen Optik versuchte, einen wahrhaften Staat aufzubauen, ist der IS nun für Jahre zu einer weltweiten Tätigkeit als terroristisches und Guerillanetzwerk verurteilt (Sahelzone, Nordafrika, Sinai, Irak, Afghanistan, Philippinen…). Er hatte sich darauf vorbereitet, doch seine Zukunft ist ungewiss: Allmähliches Verschwinden zugunsten anderer Gruppen? Comeback? Namensänderung? Erstarken seines radikalen Flügels [3]? Verwandlung in ein hauptsächlich europäisches Problem (da die westlichen Jihadisten am wenigsten an nationalen Logiken interessiert sind [4])?
Das loyalistische Syrien
Paradoxerweise haben die militärischen Erfolge des loyalistischen Lagers ebenfalls zur Schwächung des syrischen Staates beigetragen. Abgesehen von einer wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland und dem Iran kann man auch eine Tendenz hin zur Libanonisierung des Landes beobachten, d.h. eine Auflösung der Macht zugunsten der Milizen.
Obwohl sie zentral ist in der Rückeroberung des Territoriums, ist die der Regierung treu gebliebene syrische Armee (unter dem offiziellen Namen Armee der arabischen Republik Syrien, AAS) in Schwierigkeiten, trotz den 100‘000 bis 150‘000 Männern, die sie zählt (und wovon vielleicht etwa 50‘000 einsatzfähig sind). Abgenutzt nach sechs Jahren eines sehr verlustreichen Konflikts (von den wahrscheinlich ungefähr 500‘000 Toten des Konflikts sind etwa 100‘000 loyalistische Kämpfer) und mit Rekrutierungsschwierigkeiten kämpfend ist sie gezwungen gewesen, sich im Verlauf der Jahre immer mehr paramilitärische Gruppen und Einheiten einzuverleiben.
Dazu gehören allen voran die lokalen Milizen und die „Volkskomitees“, die zu Beginn des Konflikts vom Pro-Assad-Lager erschaffen worden waren und innerhalb der Nationalen Verteidigungskräfte (ungefähr 100‘000 Mann) vereinigt sind, sie rekrutieren hauptsächlich, aber nicht nur, ethnische und religiöse Minderheiten (Christen, Alawiten, Schiiten, Drusen…) und in den palästinensischen Lagern (das machen auch die „Rebellen“). Andere Einheiten, die manchmal schon vor dem Konflikt existierten, sind mit politischen Organisationen verbunden (Baath, Syrische Soziale Nationalistische Partei oder Marxisten-Leninisten), mit sunnitischen Stämmen (v.a. seit der 2017 begonnen Wiedereroberung des Ostens des Landes) oder mit dem Regime nahestehenden Geschäftsmännern, die sie direkt konstituiert und finanziert haben. Eine Vervielfachung von Milizen, die eine Auflösung der hierarchischen Kontrolle und die Entwicklung von kleinkriminellen Praktiken (Plünderung, Diebstahl, Schutzgelderpressung) zur Folge hat.
Sogar innerhalb der regulären Armee ist diese Tendenz hin zur Libanonisierung spürbar. Um der Krise Herr zu werden, hat die syrische Armeeführung den Offizieren vor Ort nämlich grösseren Spielraum gegeben und die Kommandeure der Einheiten haben davon profitiert, um sich eine beträchtliche Autonomie zu verschaffen (damit ihre Selbstfinanzierung garantiert werden kann); das würde die Schwierigkeiten und Funktionsstörungen in der Befehlskette der AAS erklären, womöglich gar den – taktisch wenig rentablen und politisch kontraproduktiven – Einsatz chemischer Waffen.
Diese Situation wird durch die zunehmende Präsenz von ausländischen militärischen Einheiten (zwischen 40‘000 und 60‘000 Mann) aus dem schiitischen Halbmond kompliziert, allen voran aus dem Iran, der militärische Berater und Spezialkräfte (die Quds-Einheiten) liefert, dazu kommt jene der Hizbollah. Zu dieser Liste müssen irakische Milizen und andere kleine Einheiten hinzugefügt werden, letztere bestehen allen voran aus afghanischen Hazara (als Flüchtlinge im Iran sind sie motiviert durch den Sold und der versprochenen Erhaltung der iranischen Nationalität).
Dieses Inventar der Kräfte scheint beeindruckend, doch, während die am wenigsten kampferprobten Einheiten ein grosses Territorium und eine Vielzahl von sekundären Fronten kontrollieren mussten, wurden die einsatzfähigsten Truppen kontinuierlich beansprucht und von einem Ende des Landes ins andere gekarrt. Ohne die Hilfe Moskaus hätten sie nicht das Gleichgewicht mit den islamistischen Armeen wiederherstellen und dann das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten beeinflussen können. Obwohl das russische Kontingent nominell beschränkt ist – ungefähr 5‘000 Mann, Logistiker, Instrukteure, Berater und SpezNaz (russische Spezialkräfte) eingeschlossen, und v.a. etwa fünfzig Kampfflugzeuge – wird es sich als sehr effizient erweisen (zu diesem Dispositiv kommen 3‘000 Mann von privaten russischen Militärfirmen dazu [5]).
In den Rebellengebieten
Da sich die Niederlage der rebellischen Armee abzeichnet, interessieren sich jene Unterstützer und Geldgeber, welche vorher ihre Stärke waren, immer weniger für sie. Die wichtigsten davon sind übrigens sehr gespalten, Saudi-Arabien und VAE gegen Katar und die Türkei. Und während letztere zu einer Annäherung mit Russland und sogar dem Iran tendieren, sind die beiden ersteren im Jemen-Krieg festgefahren. Die USA haben seit Anfang 2017 ihre fruchtlosen und teuren Versuche, „gemässigte“ islamistische bewaffnete Gruppen in Syrien zu konstituieren oder zu kontrollieren, ebenfalls eingestellt und sich schliesslich den Kurden der YPG zugewendet (genau wie Frankreich und Grossbritannien), die nur schwer als „Rebellen“ [6] klassifiziert werden können und auf die wir zurückkommen werden.
Diese Gruppen – es gibt mehrere Hundert davon – ändern regelmässig ihren Namen und gruppieren sich in nicht minder instabilen militärischen Koalitionen. Die Gesamtheit ihrer Kämpfer wurde 2016 auf zwischen 100‘000 und 150‘000 geschätzt. Das Kürzel FSA (Freie syrische Armee), das von einigen Dutzenden an Gruppen getragen wird, v.a. im Süden des Landes, bezieht sich weder auf eine Armee, noch auf eine Koordination; es handelt sich schlichtweg um eine Etikette, die sich manchmal als nützlich erweisen kann.
2017 entstehen zwei mächtige Koordinationen aus dieser Unzahl an Gruppen und polarisieren sie. Einerseits die Hayat Tahrir al-Sham, die im Januar 2017 aus den Überresten der Rebellengruppen der ehemaligen Nusrafront (die ehemalige syrische Filiale der Al-Qaida) entstanden ist und etwa 30‘000 Kämpfer zähle (davon viele ausländische Freiwillige), v.a. in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Ihre Rivalin ist die Ahrar al-Sham, eine 2011 entstandene Koordination salafistischer Gruppen, die zwischen 10‘000 und 25‘000 in mehreren Provinzen zerstreute Kämpfer zähle. Diese beiden Organisationen, welche die Provinz Idlib (zwei Millionen Einwohner [7]) in eine Festung verwandelt haben, sind wahrhaftige, schwer ausgerüstete Armeen. Wenn sie sich verbünden, sind sie fähig, mit den Truppen von Damaskus zu rivalisieren, manchmal gar sie bezüglich der Anzahl Kämpfer und Material zu deklassieren (die Luftkraft ausgenommen, sie kompensiert dieses Defizit mehr oder weniger), wie z.B. während der Schlacht von Aleppo (Sommer 2016) oder jener von Hama (März-April 2017). Doch sie sind auch fähig, sich gegenseitig um die Kontrolle der Städte und der Grenzposten mit der Türkei zu bekämpfen, d.h. um die Kontrolle des Handels, der humanitären Hilfe und der „Abgaben“. Da die beiden Koordinationen sich ideologisch nahe stehen (die eine ist eher jihadistisch, die andere steht eher den Muslimbrüdern nahe) und sie global betrachtet ähnliche Ziele haben – den Aufbau eines mithilfe der Scharia regierten islamischen Regimes in Syrien –, wechseln einige Gruppen problemlos von der einen zur anderen.
Die als fiktiv betrachtete Trennung zwischen Al-Nusra und Al-Qaida tendiert dazu, zu einer Realität zu werden – die Radikalen werfen HTS ihre Kompromisse, Zugeständnisse und doktrinale Abweichungen vor. Der Sohn von Osama bin Laden, Hamsa, wahrscheinlich der zukünftige Anführer von Al-Qaida, rief im September 2017 zum Jihad in Syrien auf, ohne die ehemalige Filiale zu erwähnen. Die Neuentstehung einer offiziellen Al-Qaida in diesem Land wird zu einer Möglichkeit. Auf internationaler Ebene konnte sich diese Organisation im Schatten des IS entwickeln, letzterer zog alle Aufmerksamkeit und alle Schläge auf sich, und sie hat mittlerweile in gewissen Regionen solide territoriale Verankerung (Sahelzone, Jemen).
Die Region Idlib ist im Mai 2017 zu einer Deeskalationszone geworden (siehe weiter unten), russische, türkische und iranische Puffertruppen sollten theoretisch dorthin zwischen Rebellen und Loyalisten entsendet werden; was werden die islamistischen Gruppen dazu meinen, welche aus der Region ihre Festung gemacht haben? Der Türkei würde z.B. der Aufbau einer neuen „nationalen Armee“, rund um Ahrar al-Sham und den anderen von ihr kontrollierten Gruppen, unter der Befehlshoheit einer interimistischen Verwaltung, nicht missfallen. Was die HTS betrifft, ist es wahrscheinlich, dass sie sich syrischen oder türkischen Truppen unterordnen werden muss oder mit ihnen konfrontiert sein wird. Seit Ende November intensivieren sich die Kämpfe mit der AAS. Neue Massaker werden also für 2018 vorbereitet.
Es ist erwähnenswert, dass die islamistischen Gruppen zwar fast vollständig über das Gewaltmonopol verfügen, das jedoch nicht bedeutet, dass die Bevölkerung jener Gebiete sie unterstützt, wo sie aktiv sind. Sie kann sich ihnen gar manchmal entgegenstellen: So haben die Bewohner mehrerer Orte der Region Idlib im Juli 2017 gegen die Anwesenheit der HTS demonstriert und verhindert, dass sie die lokale Verwaltung kontrolliert [8]. Die Einwohner Syriens träumen nicht alle von einem islamischen Staat oder einer Diktatur nach alter Schule, es gibt sogar jene, welche hoffen, es werde eine Demokratie aufgebaut, wie wir sie in Frankreich kennen. Anarchisten und Rätekommunisten schliesslich existieren zwar in Syrien, man muss jedoch leider anerkennen, dass die laufenden Dynamiken in diesem Land seit fünf oder sechs Jahren kaum in ihrem Sinn sind.
Krieg unter Freibeutern
Eine kurze Rekapitulation der Entwicklung der Situation und gewisser Ereignisse, die nach der Niederschrift unseres letzten Artikels zum Thema im Juli 2016 [9] geschehen sind, scheint uns notwendig. Der allmähliche Zusammenbruch des Kalifats wird von einer Rivalität der anderen anwesenden Akteure begleitet, welche sich so viel Territorium wie möglich aneignen möchten. Man kann mehrere Wettläufe um die Eroberung dieser oder jener Ortschaft oder die Blockade der Route des anderen beobachten, sie enthalten das Risiko, dass sich mehr oder weniger kontrollierte Zusammenstösse zwischen Kämpfern der rivalisierenden Armeen vervielfachen.
Was jedoch die Periode charakterisiert, sind die Fortführung und die Ausweitung eines Anfang 2016 begonnenen Prozesses der „Konfliktlösung“. Parallel zu seiner bewaffneten Intervention hat Russland tatsächlich ein Versöhnungszentrum eröffnet, an das am Anfang niemand glauben wollte; es ist jedoch ein Klassiker der Aufstandsbekämpfung, die Rebellen zu spalten, indem man den gemässigsten unter ihnen Waffenstillstände, Reintegration und Amnestien anbietet. In diesem Rahmen wurde eine Reihe von Abkommen unterzeichnet, welche seit Jahren von den loyalistischen Kräften belagerte Gebiete oder Ortschaften betreffen [10] und einen präzisen Prozess vorsehen: Zurückgabe des Gebietes; Transfermöglichkeit in ein anderes Rebellengebiet für jene, welche es wünschen (im allgemeinen die Kämpfer, ihre Familien und die politisch am meisten engagierten Personen) – ein Transfer, der unter der Aufsicht Russlands, der UNO und des Roten Halbmondes bewerkstelligt wird; Stationierung der russischen Militärpolizei, humanitäre Hilfsprogramme, Amnestie der Rebellen – Russland benutzt sein Gewicht gegenüber Damaskus, um Repression und Vergeltungsmassnahmen zu verhindern.
Auf einer anderen Ebene machen die regelmässig abgeschlossenen – und verletzten – Waffenstillstände zwischen den wichtigsten kriegführenden Parteien ab Januar 2017 dem Friedensprozess von Astana Platz, wo, unter der Schirmherrschaft Russlands, des Irans und der Türkei, das Regime von Damaskus und gewisse auf dem Terrain aktive Rebellengruppen die Lösung militärischer und praktischer Fragen diskutieren (im Gegensatz zu den Verhandlungen in Genf, an welchen sich eine syrische Exilopposition ohne Verbindung zu den kämpfenden Gruppen beteiligt). Auch hier geht es darum, die Rebellen (wovon einige von der Türkei unterstützt werden) zu spalten: Einerseits jene, mit welchen man verhandeln kann (Zurückgaben von Territorium, Reintegration, Amnestien), und andererseits jene, welche von allen als Terroristen betrachtet werden. Vier rebellische Enklaven sind somit im Mai 2017 als „Deeskalationszonen“ designiert worden, beispielsweise die Region von Idlib, wo sich die Kämpfe allmählich beruhigt haben. Andere lokale Abkommen komplettieren das Panorama: z.B. jenes rund um die von den YPG gehaltene, aber von protürkischen Milizen bedrohte Stadt Tall Rifaat (die in der Nähe des Kantons Afrin liegt) [11].
Da sie von der Gesamtheit der Abkommen ausgeschlossen sind, werden die HTS und ihre Verbündete das ganze Jahr lang von Offensiven profitieren, welche die AAS im Osten des Landes gegen den IS führt, um in der Region Idlib Angriffe gegen die loyalistischen Positionen in Aleppo und Hama zu lancieren.
Ein anderer Aspekt dieser Phase des Konflikts ist der Kampf im Osten zwischen Russland und den USA (repräsentiert durch die AAS einerseits, die YPG andererseits) um die Aneignung des vom IS kontrollierten Territoriums, v.a. ab seinem Zusammenbruch im Sommer 2017. Während Damaskus versucht, seine Autorität wiederzuerlangen, geht es für Washington darum, zu verhindern, dass das Regime die syrisch-irakische Grenze kontrolliert und eine Route eröffnet, die den schiitischen Halbmond Beirut-Damaskus-Bagdad-Teheran miteinander verbindet. Das Ziel der beiden Armeen ist somit die Erreichung und die Eroberung der Grenzstadt Abu Kamal [12]. Relativ gesehen hat man diese Situation mit dem Rennen um Berlin, Prag und Wien zwischen den Alliierten 1945 vergleichen können [13]. Doch damals hatten sich Russen, Amerikaner und Engländer über Besatzungs- und Einflusszonen verständigt; das ist vielleicht heute in Syrien nicht der Fall, doch ein Minimum an Verständigung wird notwendig sein, um zu verhindern, dass sich die unvermeidbaren Zusammenstösse während dem Aufeinandertreffen von AAS und YPG in einen offenen Konflikt verwandeln. Das Risiko ist umso grösser, als dass jedes Lager Hilfsmilizen benutzt, die für ihre Disziplinlosigkeit bekannt sind, und die Sprache der Bombenangriffe benutzt, um dem anderen Lager die roten Linien aufzuzeigen.
Die USA unternahmen einen ersten Versuch vom Süden herkommend im Juni 2017: Nachdem in Jordanien mehrere Rebellengruppen konstituiert und bewaffnet wurden, wurden sie losgeschickt, um aus Al-Tanf kommend Abu Kamal zu erobern; trotz der Unterstützung amerikanischer, britischer und norwegischer (!) Spezialkräfte wurden diese Gruppen durch den Fortschritt der AAS blockiert. In Anbetracht dieser Niederlage ändern die USA definitiv ihre Taktik und optieren für die Benutzung der YPG/DKS, um diese berühmte Stadt vom Norden herkommend, vom linken Ufer des Euphrats aus zu erreichen (wir werden die Frage der Rolle der kurdischen Kräfte im nächsten Kapitel ausführlicher diskutieren). Dieses Rennen um die Eroberung von Abu Kamal wird schliesslich im November vom syrischen Regime dank einer gemeinsamen Operation der AAS und aus dem Irak gekommenen schiitischen Milizen gewonnen. Die Eroberung dieser Stadt, die letzte, welche der IS hielt (sei es in Syrien oder im Irak), ist auch gleichbedeutend mit dem Scheitern des amerikanischen Projekts.
Rojava hat Übergewicht
Eine der grossen Gewinnerinnen des syrischen Konflikts ist freilich die PYD (der syrische Arm der PKK). Die Truppen dieser kurdischen Partei [14], die YPG, kontrollieren mittlerweile, Ende 2017, rund ein Viertel Syriens; einige ihrer Kämpfer halten heute mehr als 200 km von den kurdischen Siedlungsgebieten entfernt Wache. Entwickelt sich die „libertäre“ Erfahrung Rojavas im gleichen Rhythmus wie seine leichte Infanterie?
Dark Victory in Raqqa
Der extrem mediatisierte Fall der Kalifatshauptstadt hat den Homepages der Aktivisten allerdings nicht wirklich in den Kram gepasst. Wir sind weit entfernt von den lyrischen Lobgesängen im Herbst 2014 während der Schlacht von Kobanê und das hat einen Grund.
Das Wort Befreiung ist für einige sogar etwas übertrieben in Bezug auf Raqqa. Nach vier Jahren heftiger Kämpfe und schwerer Luftangriffe [15] ist die Stadt praktisch zerstört, vier Fünftel davon sind unbewohnbar und von den ursprünglich 300‘000 Einwohnern ist keiner mehr übrig [16]. Die Einwohner, genau wie jene der Ortschaften rund um die Stadt, welche vor den Kämpfen geflohen sind, sind nun auf den Strassen oder in Flüchtlingslagern. Nach langen Verhandlungen zwischen den YPG, der amerikanischen Armee und dem IS (via lokalen Notabeln und Stammesanführern) waren die einigen Tausend Überlebenden aus dem belagerten Stadtzentrum evakuiert worden, das gleiche gilt für die letzten Kämpfer und ihre Familien, welche in die Hochburgen des Kalifats zurückkehren konnten [17].
Doch man muss anerkennen, dass viele Einwohner auch vor der neuen sich abzeichnenden „Besatzung“ geflohen sind, jene der YPG, welche in dieser Region einen überaus schlechten Ruf haben und mit ethnischer Säuberung, Machtmissbrauch, Rassismus, obligatorischem Militärdienst (auch für Frauen), usw. assoziiert werden [18]. Dieser Ruf wird von gewissen Stämmen der Region gepflegt, sie sind entweder dem Regime von Damaskus treu geblieben oder haben dem IS die Treue geschworen – Stämme und Familien sind ob solchen Fragen häufig gespalten – und sie sind den Kurden immer noch zutiefst feindlich gesinnt – obwohl das grundlegende Problem eine Rivalität um den Kauf der fruchtbaren landwirtschaftlichen Nutzflächen der Region ist [19]. Die seriösesten Scheichs, welchen solche niederen Betrachtungen fernliegen, wissen, dass die Farbe der Uniformen nicht wirklich zählt, wichtig ist einzig, dass Ruhe und Sicherheit anhalten und wieder Geschäfte gemacht werden können.
Schaffen wir zwei, drei, viele Kantone
Aber nehmen wir den Faden wieder auf. Seit der Schlacht von Kobanê 2014, gleichbedeutend mit dem Ende des Fortschritts des IS, haben die YPG bedeutende, zuvor vom IS, islamistischen Gruppen oder der FSA kontrollierte Territorien an sich gerissen, weit mehr als ursprünglich geplant. Ihr Hauptziel war es, eine territoriale Kontinuität zwischen den drei kurdischen Siedlungsgebieten im Norden Syriens zu schaffen, den „Kantonen“ Cizîrê, Kobanê und Afrin; was die Eroberung von den sie trennenden, mehrheitlich von Arabern besiedelten Gebieten implizierte. Ein Plan, der von der Türkei durchkreuzt worden ist, sie kontrolliert seit August 2016 eines der Territorien mithilfe von islamistischen Gruppen. Es ist erwähnenswert, dass einige Gebiete, besonders östlich von Afrin, im Februar 2016 in Zusammenarbeit mit der AAS erobert worden sind.
Im Oktober 2015 werden unter der Schirmherrschaft der USA die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) geschaffen, eine militärische Koalition, welche die Rückeroberung von vom IS gehaltenen Regionen erleichtern soll, wo die Kurden in der Minderheit oder inexistent sind; zu diesem Zweck werden den YPG mehrere arabische bewaffnete Gruppen anvertraut. Der von da an bedeutende territoriale Fortschritt der DKS wäre ohne die Unterstützung der USA nicht möglich gewesen: logistische Hilfe, Waffenlieferungen, Ausbildung, Unterstützung durch Spezial- und Luftkräfte. Die Stationierung von Bodentruppen Seite an Seite mit den YPG bleibt trotzdem ziemlich bescheiden und diskret; obwohl mehrere amerikanische Stützpunkte in Rojava aufgebaut worden sind, sind es v.a. Operationsstützpunkte, nur zwei davon sind strategisch und haben Landepisten für Grossraumflugzeuge [20]. Die Anzahl der Kämpfer in den Spezialkräften der YPG-DKS ist allmählich gestiegen und hat sich bei 900 stabilisiert (dazu kommen die französischen und britischen Militärkräfte). Schwereres Geschütz hat das Dispositiv komplettiert: eine gepanzerte Rangereinheit, Anfang 2017 in der Gegend von Manbidsch stationiert (eine arabische Stadt, die von den YPG erobert worden ist), damit sie nicht mehr von den Türken bedroht werden kann; Marineeinheiten (Pionier- und Artillerietruppen im Rahmen der Offensive gegen Raqqa [21]). Im Mai 2017 erlaubte Trump auch die Lieferung von schwerem Geschütz an die YPG, z.B. etliche gepanzerte Fahrzeuge zum Transport von (Pionier-)Truppen (militärisches Material, das zuvor arabischen Einheiten der DKS vorbehalten war, um Ankara nicht zu provozieren [22]). Die YPG verfügen mittlerweile über ein breites Spektrum an amerikanischen, russischen und französischen Panzerabwehrflugkörpern, die theoretisch von diesen Waffenlieferungen ausgeschlossen sind.
Im Austausch zu dieser Unterstützung, welche ihr erlaubt, ihre eigenen Ziele zu erreichen, hat die PYD akzeptiert, die berühmten „Bodentruppen“ zur Verfügung zu stellen, welche den USA dermassen fehlten; sie waren dafür verantwortlich, Raqqa zu erobern und die Verkehrsachse Beirut-Damaskus-Bagdad-Teheran zu unterbrechen. Diese Operation war letztendlich gescheitert für die amerikanische Strategie, aber erlaubte es trotzdem den YPG-DKS, das ganze Nordufer des Euphrats zu erobern und als nicht vernachlässigbare Beute mehrere syrische Gas- und Ölfelder.
Das Damaskuserlebnis
Diese neue Situation kompliziert selbstverständlich die Beziehungen zwischen der PYD und der syrischen Regierung. Es sollte daran erinnert werden, dass die Partei nicht die Unabhängigkeit Kurdistans in Syrien fordert, sondern nur den Aufbau im Rahmen des bestehenden syrischen Staates einer föderalistischen Funktionsweise mit einer grossen Autonomie für die Regionen. Was auch immer die ausgehandelten Abkommen von 2011 sein mögen – und was auch immer man davon halten mag –, so war es doch für Rojava immer notwendig, gute Beziehungen zu Damaskus zu unterhalten, sei es nur aus wirtschaftlichen Gründen, zumindest durch Handelswege in der Luft oder, seit es wieder möglich ist, am Boden. Wenn z.B. das im Kanton Cizîrê extrahierte Erdöl zum Teil kleinindustriell raffiniert wird, so wird doch ein grosser Teil verkauft an die Regierung in Damaskus, die im Gegenzug der PYD Treibstoff verkauft. Diese Abkommen erlauben auch die Erschliessung des Kantons Afrin und, durch die loyalistischen Gebiete, eine Strassenverbindung mit den anderen Kantonen (auch für die militärischen Konvois der YPG).
Einige französische Kommentatoren und Aktivisten wollen lieber nicht darüber sprechen, sie versuchen stattdessen die Existenz einer Animosität zwischen Damaskus und Rojava aufzuzeigen, indem sie den Fokus auf die einige Tage andauernden Zusammenstösse zwischen den loyalistischen Kräften und den YPG in den von letzteren umzingelten Städten lenken (Spannungen, die schnell dank russischer Vermittlung abgebaut worden sind). Sie verschweigen die befriedete Koexistenz, welche die beiden Armeen seit Jahren verbindet (manchmal innerhalb einer gleichen Stadt) – und zudem ihre enge Zusammenarbeit während verschiedenen wichtigen Zeitpunkten, besonders die Rückeroberung der östlichen Quartiere Aleppos [23], welche das Misstrauen vieler „Rebellen“ gegenüber den YPG durchaus erklärt.
Trotzdem, und logischerweise, war das Zusammentreffen von AAS und DKS entlang des Euphrats und zu Ungunsten des IS im Herbst 2017 von mehreren Zusammenstössen geprägt, welche durch die Achtsamkeit der USA und Russland folgenlos geblieben sind.
„Und welche Zukunft?“
Im Verlauf des Jahres 2017 haben die USA eine Stärkung der arabischen Komponente der DKS unterstützt, indem arabische Rekruten in die YPG aufgenommen, doch auch indem diverse gegen Assad gerichtete Kräfte im Nordosten in die DKS eingegliedert worden sind: Einheiten, welche das Etikett FSA behalten, kleine islamistische Milizen (auch ehemalige Verbündete des syrischen Arms der Al-Qaida) und bewaffnete Gruppen gewisser Stämme. Die DKS zählen also im Herbst 2017 ungefähr 80‘000 Kämpfer, davon 60‘000 der YPG (wovon ein Drittel Frauen sind [24]). Man sieht, dass die kurdische Komponente, obwohl sie mechanisch an Bedeutung verliert, doch zentral bleibt.
Die Situation ist komplexer auf dem politischen Terrain, denn die militärischen Siege der YPG und die territoriale Ausdehnung Rojavas bringen auch gewisse Probleme. Obwohl die PYD in den drei ursprünglichen, mehrheitlich kurdischen Kantonen nämlich die politische Bühne beherrschen kann – indem sie sich auf einige kleinere Verbündete und eine Vielzahl unter ihrer Kontrolle stehende Vereine stützt und indem sie das Monopol zur Bewaffnung behält –, so sieht die Situation in den gemischten oder mehrheitlich von Arabern besiedelten Gebieten anders aus. Die PYD muss sich ihren neuen Verbündeten anpassen: Obwohl einige ans westliche Modell der Demokratie glauben, so sind doch andere Anhänger einer Funktionsweise und einer Ethik, die kaum libertär sind… Die in gewissen arabischen Städten, in entvölkerten Ruinen wie Tabqa und Raqqa eingeführten Institutionen mussten also Notabeln und Stammesanführern einen wichtigen Platz einräumen (manchmal waren sie einige Tage zuvor noch mit dem IS verbündet), doch haben auch den einen oder anderen enttäuscht [25].
Andere Komplikation: Obwohl Ende 2016 der Name Rojava („westliches Kurdistan“ auf kurdisch) aufgegeben und mit jenem der „Demokratischen Föderation Nordsyrien“ ersetzt worden ist, um die arabischen Minderheiten nicht zu provozieren [26], hat die territoriale Ausdehnung auch die demographische Zusammensetzung dieser Verwaltungseinheit modifiziert und die Kurden sind wahrscheinlich nicht mehr in der Mehrheit. Aufgrund der jüngsten Kämpfe, welche etliche Ortschaften entvölkert haben, ist es unmöglich, zu wissen, wie viele Einwohner heute auf diesem Territorium überleben, doch verständlich, wieso die Rückkehr der Flüchtlinge mittlerweile einen politischen Streitgegenstand darstellt [27]. Die Kämpfer der YPG sind also in einer zumindest ungemütlichen Situation [28]… Umso mehr, weil noch eine andere Frage hinzukommt, jene des obligatorischen Militärdienstes, neun bis zehn Monate für mindestens ein Mitglied jeder Familie. Diese Dienstpflicht gab es bereits in den kurdischen Kantonen, sie dehnt sich 2017 allmählich auf die anderen von den YPG kontrollierten Regionen aus: Die Armeeführung hat nämlich angekündigt, dass sie bis Ende Jahr die symbolische Zahl von 100‘000 Kämpfern erreicht haben möchte [29]. Die YPG gliedern also immer mehr junge Araber ein, viele davon haben an den Kämpfen in Raqqa teilgenommen – die Betreuung und die Offiziere bleiben natürlich kurdisch. Im November kam es zu Demonstrationen gegen die Wehrpflicht rund um die Städte Tabqa und Manbidsch, begleitet von einem Händlerstreik, Ereignisse, welche von den YPG als Manipulationen des türkischen respektive syrischen Geheimdienstes bezeichnet werden [30].
Die jüngere Geschichte hat uns gezeigt, dass eine Armee, welche die Demokratie in ein Territorium bringt, ohne formell eingeladen worden zu sein, für die Bevölkerung schnell zu einer Besatzungsarmee werden kann. Das könnte den YPG in den mehrheitlich arabischen Gebieten geschehen. Schon jetzt nutzt Ankara seinen Einfluss in der Region und unterstützt arabische Protestbewegungen gegen die kurdische Behörde, welche sich durchaus in einer nahen Zukunft in eine islamistische Guerilla und Attentate verwandeln könnten. Es ist also wahrscheinlich, dass sich die PYD allmählich in die kurdisch besiedelten Gebiete zurückziehen und gewisse Städte (sowie die wichtigsten Ölfelder) den Behörden von Damaskus oder einer unter amerikanischer Schirmherrschaft stehenden Interimsverwaltung zurückgeben muss.
Wie wird Rojava unter diesen Umständen in den nächsten Jahren aussehen? Man kann wohl beruhigt sein, denn die Lieferung von Waffen und Panzern war wahrscheinlich nur ein Teil des abgeschlossenen Geschäfts; Washington hat sich höchstwahrscheinlich engagiert, einen Föderalisierungsprozess Syriens und die Konstitution einer kurdischen Region zu unterstützen, somit eine militärische Präsenz in der Region aufrechtzuerhalten, mag sie auch nur symbolisch sein. Doch wie lange? Denn ohne Schutzpatron wäre Rojava in einer schwierigen Situation, eingeklemmt zwischen Damaskus und Ankara. Ausser es wird Ersatz gefunden [31]. Russland ist schliesslich auch da, unterstützt ebenfalls die föderale Vision der PYD, stellt den Kanton Afrin unter seinen Schutz (indem es Panzer seiner Militärpolizei dort stationiert) und übernimmt Vermittlungsdienste mit der Regierung in Damaskus. Doch es bleibt v.a. verbündet mit derselben. Der Schaffung eines föderalen Syriens und einer Region im Norden im Genuss einer grossen Autonomie ist womöglich auf gutem Weg – die Situation dürfte schliesslich ähnlich herauskommen wie im irakischen Kurdistan. Das dort herrschende politische Regime wird wahrscheinlich noch lange weit entfernt von westlichen Schemata sein, aber noch weiter entfernt von einer „libertären Utopie“.
„Und welche Gesellschaft“
In der westlichen linksradikalen Szene müssen sogar die letzten Bewunderer „der libertären Utopie“ Rojavas „den staatlichen Aspekt“ dieser „Erfahrung“, ihre „protostaatlichen Institutionen“, das Gewicht der PYD, die obligatorische Wehrpflicht, den Personenkult, den Respekt des Privateigentums usw. anerkennen [32]. Sie hegen trotzdem immer noch die Hoffnung, dass die Situation sich mit der Zeit positiv entwickeln kann. Während darauf gewartet wird, wird viel von Kommunen gesprochen, welche die PYD in den Dörfern und Quartieren aufbaut. Sie haben jedoch nicht viel mit Arbeiterräten zu tun, sie sind v.a. Quartierräte mit beschränkter Macht, konsultativ und der Rolle einer ersten juristischen Vermittlungsinstanz. Die restliche politische und administrative Funktionsweise, die scheinbar sehr bürokratisch sein soll, ist jedoch von den westlichen demokratischen Institutionen inspiriert – was tatsächlich in Syrien eine Neuheit darstellt.
Das Regime in Rojava proklamiert auch seinen „Willen, eine Organisationsform der Gesellschaft zu verteidigen, welche die Gleichheit zwischen Männern und Frauen und die sprachliche Diversität respektiert“ [33] und „eine brüderliche, demokratische, ökologische und emanzipatorische Gesellschaft für alle ohne Unterscheidung zwischen Geschlechterrollen, Ethnien oder Konfessionen“ [34]. Das ist schön und gut, genau wie die Einführung der Gleichheit zwischen Männern und Frauen in allen Bereichen. Doch ist es nicht ein bisschen übertrieben, diese Prinzipien als „revolutionär“ zu bezeichnen? Und, wenn präzisiert wird „für patriarchale Gesellschaften“ [35], muss man verstehen „für diese Leute dort“? Denn wir sehen nicht sehr gut, weshalb „Revolutionäre“ einen solchen Prozess unterstützen und beweihräuchern sollten, ausser man glaubt in einem umgekehrten orientalistischen Elan, dass das für sie sehr gut ist, oder, dass (vielleicht nach den jüngsten theoretischen Entdeckungen) der Aufbau einer parlamentarischen Demokratie nach westlichem Modell mittlerweile eine unausweichliche Etappe auf dem Weg zu einer künftigen sozialen Revolution darstellt.
Obwohl 2014 eine Verwirrung noch möglich war, ist es unverständlich wie einige 2017 in Rojava eine „revolutionäre“ und „libertäre“ Erfahrung, ja gar eine der „Selbstverwaltung“ wahrnehmen. Wir werden nicht weiter darüber sprechen. Das Wort „Revolution“ ist in der gängigen Sprache weitgehend abgenutzt worden und hat keinen präzisen politischen Sinn mehr. Es scheint, dass nun das gleiche in den linksradikalen oder anarchistischen Milieus geschieht, wo dieses Wort immer häufiger ein Synonym ist für eine Evolution in Richtung mehr Demokratie. Wenn wir neben den Schlachten auch noch die Worte verlieren, schrumpft die Utopie selbst.
Im Irak, zurück auf Feld eins?
Die im Oktober 2016 lancierte Schlacht zur Wiedereroberung der Stadt Mosul vom IS endete offiziell im Juli 2017, sie war verantwortlich für sehr schwere Verluste in den Reihen der irakischen Streitkräfte, Zehntausende von Toten, und wahrscheinlich gleich vielen unter den Zivilisten. Zwei Drittel der 1.5 Millionen Einwohner sind vor den Kämpfen und den Bombenangriffen geflohen. Von einem humanitären Standpunkt aus betrachtet steht diese Schlacht jener von Aleppo in nichts nach. Der Rest des Landes ist nach heftigen Kämpfen allmählich von einer – nach dem Debakel von 2014 – rekonstituierten irakischen Armee und einer Unmenge von Milizen zurückerobert worden. Die dynamischsten letzterer sind die Haschd al-Shaabi, die „Volksmobilmachungskräfte“: eine Koalition von Dutzenden mehrheitlich schiitischer Milizen (mit einigen sunnitischen oder christlichen Ausnahmen). Obwohl einige am Kampf gegen die amerikanische Invasion nach 2003 beteiligt waren, wurden die meisten im Sommer 2014 gebildet, nach einer vom grossen Ayatollah Ali al-Sistani lancierten Fatwa. Während die reguläre Armee mit Rekrutierungsschwierigkeiten konfrontiert ist, haben sich Tausende Freiwillige den Volksmobilmachungskräften angeschlossen, hauptsächlich junge Arbeitslose. Bestehend aus 100‘000 Mann waren sie an allen Kämpfen beteiligt, auch in den sunnitischen Gebieten und Ortschaften (ausser innerhalb von Mosul).
Obwohl sie grosse Unterstützung vom Iran geniessen, gibt es in den Volksmobilmachungskräften keine politische Einheit, höchstens einen starken irakischen Nationalismus, und sie sind in mehrere Fraktionen gespalten, deren Anführer in der Zukunft gewiss eine politische Rolle spielen werden [36]. Obwohl einige, wie der schiitische Anführer Moktada al-Sadr (der die Unterstützung der sunnitischen Bevölkerungen erlangen möchte [37]), dazu aufgerufen haben, ist es unwahrscheinlich, dass sie zerschlagen werden, sei es nur, weil sie seit drei Jahren eine Einkommensquelle für Zehntausende schiitischer Familien sind.
Viele dachten, dass das irakische Kurdistan siegreich aus jenem Konflikt hervorgehen würde, welcher es ihm erlaubt hatte, die Kontrolle über von der irakischen Armee 2014 verlassene oder vom IS zurückeroberte Gebiete zu übernehmen, besonders Kirkuk und seine Ölreserven. Dabei vergass man, dass diese Region zwischen zwei rivalisierenden Clans gespalten ist (der eine ist mit Ankara verbunden, der andere schaut nach Teheran) und Korruption und Vetternwirtschaft allgegenwärtig sind, die Konsequenzen einer auf der Ölrente basierenden Wirtschaft. Das Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 war wahrscheinlich ein Mittel, um den Einsatz gegenüber Bagdads zu erhöhen, doch es war mit einer einhelligen internationalen Feindseligkeit konfrontiert: Sie war grünes Licht für die Volksmobilmachungskräfte, die nur einige Tage brauchten, um erneut die Kontrolle über die umkämpften Gebiete zu übernehmen – der Zerfall der aufgedunsenen Peschmergas war für Kurdistan gleichbedeutend mit dem Verlust von 50% seiner Öleinkommen und der Verlegung der Unabhängigkeit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
Ist der Irak zum Status quo ante 2013 zurückgekehrt – zur Herrschaft der arroganten Schiiten und der Marginalisierung der Sunniten –, jener, welcher vor der Geburt und des Erfolgs des IS vorgeherrscht hatte? Viel fehlt nicht. Ausser, dass die geschwächten Kurden dieses Ungleichgewicht nicht mehr werden ausgleichen können.
Abgesehen auch von der Tatsache, dass die schiitische Macht, zusätzlich zur amerikanischen Unterstützung, mittlerweile über eine starke Unterstützung Teherans und, in einem geringerem Ausmass, Moskaus verfügt.
Abgesehen auch von der Tatsache, dass das Land nie dermassen vom Krieg zerstört war (Hunderte Milliarden Dollar seien notwendig für seinen Wiederaufbau, eine Milliarde alleine für die Stadt Mosul).
Abgesehen auch von der Tatsache, dass das Land immer noch über viel Erdöl verfügt, das vor der Episode des Kalifats zu 60% nach Asien, zu 20% nach Amerika und zu 20% nach Europa exportiert worden war.
Abgesehen auch von der Tatsache, dass jetzt schon sunnitische islamistische Gruppen angekündigt haben, dass sie einen Guerillakrieg gegen die amerikanischen Truppen und die Armee Bagdads führen werden.
Der Wiederaufbau Syriens
Ein grosser Teil Syriens ist eine einzige Ruine und seine Wirtschaft, die sich in einem desaströsen Zustand befindet, habe einen Sprung 30 Jahre nach hinten gemacht, mit einem um 55% geschrumpften BIP zwischen 2010 und 2015 und einem industriellen Sektor, der wegen Zerstörungen und Diebstählen um 50% geschrumpft ist [38]. Der Wiederaufbau des Landes würde Hunderte Milliarden Dollar kosten. Zerstört oder beschädigt, alles muss wiederaufgebaut werden – zwei Millionen Wohnungen, Tausende Schulen, Dutzende Spitäler, Strassen, Wasser- und Stromversorgung usw.
Doch nur weil ein Land oder eine Region eine einzige Ruine ist, bedeutet das nicht, dass es oder sie wiederaufgebaut werden muss. Und von wem? Weshalb? Die syrische Regierung wird es nicht aus Grosszügigkeit tun, sie braucht den Wiederaufbau, um ihre Macht und einen Anschein von sozialem Frieden wiederzuerlangen, und jene Regionen, welche sich ihr gegenüber am feindlichsten gezeigt haben, werden nicht in den Genuss einer prioritären Aufmerksamkeit kommen. Die äusseren Kriegsteilnehmer sind auch nicht viel philanthropischer, man sieht es gut in Raqqa: Die westliche Luftwaffe hat die Stadt in Schutt und Asche gelegt und die YPG haben sie erobert; aber wer wird bezahlen, sei es nur, um die Wasser- und Stromversorgung wiederaufzubauen? (Das ist umso weniger klar, als dass man nicht weiss, wer die Stadt in einem Jahr kontrollieren wird.)
Die Idee eines weitreichenden Wiederaufbaus wird für die syrische Regierung erst mit der russischen Intervention im September 2015 wirklich glaubwürdig. Denn man versteht allerseits, dass diese Macht, mit oder ohne Assad, nicht verschwinden wird; die Eroberung der Ostquartiere Aleppos im Dezember 2016 hat es den Skeptikern bestätigt. Für jene, welche dem Regime nahestehen und sich dank der Kriegswirtschaft bereichert haben, geht es darum, die Rückkehr zum Frieden vorzubereiten, d.h. erneut gewöhnliche Geschäfte zu machen – einige sehen in diesem Ruinenfeld die Gelegenheit, die vor 2011 lancierten liberalen Reformen weiterzuführen. In dieser Perspektive hat der syrische Staat gesetzliche Anpassungen vorgenommen, welche die öffentlich-private Partnerschaft und die Privatisierungen begünstigen [39]. Es geht auch darum, die syrischen Chefs, welche ihre Tätigkeiten zu Beginn des Konflikts in andere Länder der Region verlegt haben, zur Rückkehr zu bewegen, besonders die Textilindustriellen, welche gegenwärtig ägyptische Arbeitskraft ausbeuten [40].
Das frappierendste Anzeichen dieses sich abzeichnenden Wiederaufbaus, welcher nur die Verlängerung der Vorkriegszeit mit anderen Mitteln ist, ist jenes der Stadtplanung: Man sieht spektakuläre Projekte aufblühen, welche manchmal nur aufgewärmte Varianten von schon vor dem Konflikt bestehenden Plänen sind, sie hatten damals bereits zur Unzufriedenheit der Bevölkerung beigetragen, wie z.B. der Traum des Bürgermeisters von Homs, seine Stadt in ein Las Vegas des Orients zu verwandeln. Es geht einerseits darum, die beschädigten Stadtzentren zu renovieren, andererseits, wie es am häufigsten der Fall ist, die weitläufigen „informellen Quartiere“ der Peripherien zu restrukturieren, wo das aus dem Umland gekommene Proletariat logierte und die Revolte 2011 begonnen hat. Viele dieser Quartiere wahren die Bühne heftiger Kämpfe und sind mittlerweile zu Ruinenfeldern reduziert worden… Ideal, um Tabula rasa zu machen und schöne Gebäude hinzustellen, wo die dem Regime treu gebliebenen Mittelklassen und die ihm treu gebliebene Bourgeoisie logiert werden können [41]. Der Krieg erleichtert die Gentrifizierung.
Es stellt sich jedoch die Frage der Finanzierung. Weder der syrische Staat – dessen Kassen leer sind und dessen Verschuldung stark gestiegen ist (v.a. gegenüber dem Iran und Russland) – noch die privaten lokalen Akteure werden sie komplett tragen können. Daher sucht man im Rahmen von liberalen Reformen ausländische Investitionen. Die Fortdauer einer gewissen Unsicherheit, einer Vetternwirtschaft, der Mauscheleien und der Korruption bremst das ganze natürlich weiterhin – es werden also viele Projekte gemacht –, doch all das hindert die syrische Regierung nicht daran, sich noch stärker anzustrengen.
Abkommen und professionelle internationale Foren, welche dem Wiederaufbau gewidmet sind, folgen aufeinander, sowohl in Damaskus als auch im Ausland (Beirut, Amman und Peking 2017), Gelegenheiten, um potentielle Partner oder Investoren zu treffen, welche aus Russland oder dem Iran gekommen sind, aber auch aus Jordanien, Weissrussland, Südafrika, Indien, Malaysia und sogar aus den Golfstaaten und aus dem Irak [42]. Brasilien ist dabei, die diplomatischen Beziehungen mit Damaskus wiederaufzunehmen, um Marktanteile zu erhalten. Der Libanon ist ganz vorne dabei: Die Chefs im Baugewerbe hoffen, dass sie von ihrer Erfahrung profitieren können [43], und das Land träumt davon, das Eingangsportal für die Baustellen Syriens via Sonderwirtschaftszone von Tripoli zu sein – sie ist dabei, gebaut zu werden, es sind eine Vergrösserung des Hafens, der Bau von Autobahnen und die Reaktivierung des (während dem libanesischen Bürgerkrieges zerstörten) Eisenbahnnetzes vorgesehen. Die von den Wirtschaftssanktionen der EU eingeschränkten Europäer sind von diesen Diskussionen praktisch abwesend. Baschar al-Assad hat übrigens, wenig überraschend, im August erklärt, dass jene Länder, welche die „Terroristen“ unterstützt hatten (sprich die westlichen Länder und die Golfstaaten, welche bewaffnete islamistische Gruppen finanziert haben), von der Kuchenteilung des Wiederaufbaus ausgeschlossen sein werden. Den Riesen des französischen Bausektors werden im besten Fall einige unbesetzte Nischen in die Hände fallen, z.B. der von der UNESCO finanzierte Wiederaufbau des historischen Kulturerbes [44]. Damaskus privilegiert die Schwellenländer (die sich neutral gezeigt haben), China und, allen voran, Russland und den Iran. Für diese drei letzteren Länder repräsentiert Syrien, neben den möglichen Markterschliessungen, ein strategisches Gebiet zwischen Asien und Europa, insbesondere für den Transport von Treibstoffen.
Im April 2016 hat Russland mit Syrien einen ersten, ungefähr eine Milliarde Dollar schweren Vertrag zum Wiederaufbau der Stromversorgung, der Infrastrukturen, des Handels, der Finanz und anderen wirtschaftlichen Sektoren unterzeichnet. Die russischen Unternehmen haben schon Stellungen im Treibstoffsektor eingenommen (eine der geringsten Produktionen der Region) und haben ab September 2015 damit begonnen, die küstennahen Gas- und Ölreserven des Landes zu erkunden.
Das wirtschaftliche Gewicht des Irans in Syrien wird zunehmend grösser, insbesondere seit dem Verlust der Ölfelder im Osten des Landes 2013, der Damaskus dazu gezwungen hat, Treibstoffe aus Teheran zu beziehen. Die Unterzeichnungen von Kreditabkommen zwischen den beiden Ländern werden immer häufiger (besonders für den Import des iranischen Öls), oft gegen für den Iran sehr günstige Investitionsverträge im Minensektor (Phosphat), dem Bauwesen, dem Telekommunikationssektor und für den Verkauf von Agrarland [45]. Es ist erwähnenswert, dass iranische Privatpersonen (v.a. aus dem Militär) von der Krise profitieren, um Land und Zweitresidenzen in Damaskus zu erwerben [46].
Peking hat die Regierung Syriens immer diskret unterstützt, ein Land, wo China schon vor dem Krieg begonnen hatte, zu investieren, besonders im Treibstoffsektor. Die chinesischen Unternehmen haben ihre Arbeit im Land nie unterbrochen (2013 rüsteten sie die vom Regime gehaltenen Territorien mit Glasfaserkabeln aus). Obwohl Damaskus China aufgrund seiner Finanzierungskapazitäten und der Effizienz seiner Unternehmen fleissig den Hof macht, bleibt China vorsichtig [47] (besonders aufgrund der Wirtschafts- und Banksanktionen). Ein anderer Hemmschuh ist die Schwäche der natürlichen syrischen Ressourcen, welche, mit Ausnahme des Erdöls im (von den YPG gehaltenen) Nordosten, schon in den Händen der Russen und der Iraner sind und die Peking in der Regel im Gegenzug für seine Investitionen erhält. Man spricht allerdings von Projekten im Solarsektor. Langfristig ist Syrien ein zentrales Element im chinesischen Projekt des Aufbaus von „Seidenstrassen“ (Strassen-, Eisenbahn- und Energietransportverbindungen), welche den Fernen Osten mit Europa verbinden sollen. Ein erstes, zwei Milliarden Dollar schweres Investitionsprojekt zum Aufbau eines Industrieparks, wo sich anfänglich 150 chinesische Unternehmen ansiedeln werden [48] und eines Tages 40‘000 Syrer arbeiten sollen, ist jedoch schon im Juli 2017 angekündigt worden.
Morgen
Arbeiter und Proletarier scheinen in diesem Text weitgehend abwesend zu sein. Doch, wie wir bereits zuvor geschrieben haben: „Wir sprechen eigentlich von Anfang an von ihnen, aber in Form von Kanonenfutter.“ Hunderttausende Kämpfer in ganz Syrien, die sich gegenseitig umbringen. Eine nur zu aktive Minderheit, welche den Krieg macht inmitten einer Mehrheit, welche ihn erdulden muss.
Von den 22 Millionen Einwohnern, welche Syrien 2011 zählte, sind sechs Millionen ins Ausland geflohen und sieben Millionen sind Binnenflüchtlinge (was im Falle Frankreichs 18 bis 21 Millionen Einwohner entsprechen würde). Seit Jahresanfang beobachtet man zum ersten Mal, dass Flüchtlinge nach Hause zurückkehren, fast 600‘000 im August (zu 80% Binnenflüchtlinge [49]). Diese Rückkehr wird möglich, insofern Damaskus seine Macht in den bisher von islamistischen Gruppen oder dem IS gehaltenen Gebieten zurückerlangt. Das Regime ist freilich immer noch eine Diktatur, doch sie bombardiert keine Gebiete, welche sie kontrolliert, was in der aktuellen Phase des Konflikts und für die dort lebenden Bevölkerungen ganz bestimmt ein Vorteil ist. Obwohl es nicht besonders wahrscheinlich ist, dass die nach Europa oder Nordamerika gegangenen Flüchtlinge zurückkehren, insbesondere die Angehörigen von Minderheiten (die Christen), so wird das hingegen ziemlich wahrscheinlich für die ärmsten der Fall sein, jene, welche unter sehr prekären Bedingungen in der Türkei, im Libanon oder Jordanien leben. Doch, obwohl die militärische Absicherung und die Deeskalation Fortschritte machen, bleiben der katastrophale Zustand der Wirtschaft des Landes und das Ausmass der Zerstörungen Argumente gegen eine Rückkehr. Die Arbeitslosenquote erreichte 2016 60% und jene der Jugendarbeitslosigkeit 2015 78% [50] – daher das Interesse für den Soldatenberuf. 83% der Bevölkerung lebt mittlerweile unter der Armutsgrenze, 2010 war es ein Drittel. Man kann verstehen, dass sich der Klassenkampf an einem toten Punkt befindet.
Wir sprachen am Anfang von einem vom Bombenhagel und den Ruinen gefügig gemachtes Proletariat. Doch es kommt die Tatsache hinzu, dass es durch den Bürgerkrieg gespalten und in Konfessionen und Gemeinschaften eingepfercht worden ist. Ein Zustand, der wahrscheinlich fortdauern wird, auch falls ein breiter Prozess des Wiederaufbaus beginnen sollte, denn Syrien verfügt weder über genügend wirtschaftliche und industrielle Kapazitäten, noch über ausreichende äussere finanzielle Unterstützung, um dreissig glorreiche Jahre zu lancieren, die Vollbeschäftigung und hypothetisch die Affirmation eines sich in einer Machtstellung befindenden Proletariats zu erreichen...
Die Auswanderung von sechs Millionen Syrern und der Tod von etwa 500‘000 löst jene Probleme nicht, mit welchen der Staat schon vor dem Krieg konfrontiert war (zu grosser Bevölkerungswachstum, hohe Jugendarbeitslosigkeit) und welche bezüglich der Auslösung der Revolte eine Rolle gespielt haben. Denn das Land ist eine einzige Ruine und die Reservearmee der Arbeiter schon ziemlich gross. Was wird langfristig damit geschehen? Obwohl das Kapital manchmal merkwürdige Überraschungen für die Arbeiter bereithält, hat es Syrien noch nicht nötig, eine eingewanderte Arbeitskraft einzustellen – ausser im Falle der qualifizierten Arbeiter, welche in grosser Anzahl nach Europa ausgewandert sind (z.B. jene des Gesundheits- und Pflegesektors), umso mehr, weil die Berufsausbildung in Syrien seit sechs Jahren eingeschränkt oder unterbrochen ist; das gleiche gilt für sehr qualifizierte Anstellungen wie jene der Ingenieure. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist das 2011 knifflige Problem der Jugendarbeitslosigkeit von Hochschulabgängern gelöst. Doch ohne Wiederaufbau und massive ausländische Investitionen ist das Land dazu verurteilt, ein Auswanderungsland zu bleiben.
All das dafür? Als ob die verblüffende und unvertretbare Episode des Kalifats und Jahre des Bürgerkriegs in Syrien nicht den geringsten Nutzen gehabt hätten, ausser jenen, gewisse Einflussgebiete zu modifizieren, die Karten neu zu mischen und künftige Konflikte vorzubereiten. Das übliche grosse Spiel.
Welche Lehre können wir aus dieser Katastrophe ziehen, die wir nicht schon gezogen haben? Der Krieg ist eine Katastrophe, allen voran für die ihn erduldenden und kämpfenden Proletarier, der Bürgerkrieg fügt dem seine Grausamkeiten hinzu [51]. War es notwendig, das zu präzisieren? Dass der Umgang mit Waffen als getrennte Tätigkeit jeglichen Ausdruck des Klassenkampfes erstickt? Doch dass es die Proletarier nicht daran hindert, besonders aktiv zu sein? Jene Fahnen, welche bis anhin am meisten Leute mobilisieren, sind leider nicht besonders emanzipatorisch. Dass die konfessionellen, ethnischen und nationalen Fragen im Zentrum des Diskurses stehen (sei es auf ausschliessende oder einschliessende Art und Weise), auf Kosten der wirklichen Probleme und v.a. der Interessen der Bevölkerungen?
Was soll noch gesagt werden, ohne sich zu wiederholen oder als zu negativ zu erscheinen [52]? In diesem Chaos, und besonders im syrischen Bürgerkrieg, gibt es eine Sache zu sehen und sie sticht einem die Augen aus, dermassen ist sie omnipräsent: Es ist eben genau alles, was die Revolution nicht ist; sei es hinsichtlich der Selbstorganisation, der Organisation des Überlebens, der militärischen Aktivität, der Alternativen, der protostaatlichen Utopien usw. Es kann dort kein Modell gefunden werden und übrigens auch kein Gegenmodell. Die Revolution wird gewiss kein Galadiner sein [53], alles andere als das, doch sie wird nicht diesen schändlichen Bürgerkriegen ähneln, wovon der zeitgenössische Kapitalismus das Geheimnis kennt; zumindest ein positiver Punkt.
Tristan Leoni, Dezember 2017
Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net
Zusätzliche Anmerkung zur Frage der Quellen
Es ist uns mehrmals vorgeworfen worden, Quellen zu benutzen, die nicht benutzt werden sollten, z.B. den Figaro; Bemerkungen, die implizieren, dass – z.B. – Libération eine zuverlässigere Informationsquelle wäre, da „links“. Ja, wir gestehen es, wir lesen Zeitungen und konsultieren Homepages, mit welchen wir politisch nicht einverstanden sind. Zum Glück. Es wäre schwierig, solche Artikel, Artikel überhaupt zu schreiben oder sogar nachzudenken, indem man nur die Aktivistenpresse liest (welche übrigens?). Wir wissen auch, dass eine Information, die man auf einer von Russland, dem Iran oder Katar beeinflussten Homepage gefunden hat, in unseren Gefilden praktisch keinen Wert hat (man muss versuchen, sie anderswo zu finden oder sie vergessen), während eine andere, die man in der Monde gefunden hat, als achtbar erscheinen wird.
Die Offenlegung unserer Quellen, damit alle sie konsultieren, sich eine Meinung bilden können, eventuell eine andere als unsere, scheint uns wichtig: Wir tun das wahrscheinlich zu häufig, aber nicht genug für einige (man kann immer den Autor kontaktieren, um mehr darüber zu erfahren). Man kann davon ausgehen, dass jene, welche glauben, dass man, wenn man sich auf einen Artikel in Les Échos bezieht, dem MEDEF die Treue schwört, ziemlich wenig lesen. Wir möchten sie allerdings darauf hinweisen, dass wir schon Informationen aus folgenden Quellen zitiert haben: Atlantico, Le Figaro, Le Monde, Le Crieur, L’Express, Le Commerce du Levant, CQFD, Le Point, RTL, RFI, L’Orient le Jour, Échanges, Orient XXI, Le Temps, Le Nouvel Observateur, Les Échos, Raids, Afrique-Asie, Sciences humaines, Libération, Marianne, Vice News, France 24, Financial Times, Politique étrangère, RMC, France culture, Diplomatie, Le Monde diplomatique, TV5 Monde usw. Diese Liste sollte mit Dar al-Islam komplettiert werden, der französischsprachigen Zeitschrift des IS.
Böse Zungen können also leicht eine Quelle finden, die ihnen nicht gefällt und ihnen bestätigt, was sie vom Artikel halten, bevor sie ihn gelesen haben – wenn man einen Text von einer einzigen Seite her angreift, zeigt das, dass man grundsätzlich nichts zu sagen hat. Doch es stimmt, dass die Worte heutzutage keinen Sinn mehr haben und dass es, auf eine fast esoterische Art und Weise, darum geht, Texte zu dekonstruieren, um den versteckten Sinn zu entdecken und v.a. die (manchmal unbewussten) Absichten des Autors. Vor einer nicht allzu langer Zeit sagte man noch, dass es reicht, um einen Text zu verstehen, ihn zu lesen – sein Autor hatte sogar mit mehr oder weniger Glück versucht, dafür die richtigen Worte zu finden…
[1] Dieser Artikel ist die Fortsetzung einer Serie von Artikeln: „Kalifat und Barbarei“ (erster und zweiter Teil im Dezember 2015) und „Warten auf Raqqa“ (Juli 2016). Einige Fragen wurden darin schon behandelt (wie hier der Übergang eines sozialen Protests zu einem Bürgerkrieg, der zu einer Intervention ausländischer Akteure führt). Wir werden uns also darauf beziehen.
[2] Die russische und syrische Luftwaffe haben in der Region Idlib das gleiche getan, damit keine solchen Strukturen entstehen.
[3] War der IS vom gemässigten Teil der Bewegung angeführt worden? Auf jeden Fall existierte eine extremistische Tendenz innerhalb des Kalifats, doch da sie eine Minderheit darstellte, ist sie in „der Opposition“ geblieben und wurde 2017 gar niedergeschlagen. Siehe Romain Caillet, „Les dissidents radicaux de l‘État islamique“, 8. Juni 2017.
[4] Romain Caillet in L‘Invité des matins, France culture, 1. November 2017.
[5] Michel Goya, „Syrie: le modèle de l‘intervention russe“ in DSI, Nr. 132, November-Dezember 2017, S. 70-73.
[6] Die USA und ihr jordanischer Verbündeter unterstützen diese Gruppen trotzdem, sie sind hauptsächlich FSA etikettiert und kontrollieren das Grenzgebiet zwischen Jordanien und dem Golan.
[7] Die Hälfte der Bewohner dieses Gebiets sind Flüchtlinge, deren Präsenz einen Streitgegenstand darstellt. Ankara achtet darauf, dass ihnen dort humanitäre Hilfe zugutekommt und sie die Grenze nicht überqueren müssen. Das ist der HTS bewusst, sie spielt mit der Türkei das gleiche Spiel wie diese mit der EU. Flüchtlingslager sind auch ideale Orte zur Rekrutierung.
[8] Delphine Minoui, „Syrie: au cœur de la province d‘Idlib, un fragile îlot de résistance“ in Le Figaro, 27. Juli 2017.
[9] Tristan Leoni, „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“, Juli 2016.
[10] Die überraschende Länge gewisser Belagerungen kann durch die Besonderheiten dieses Bürgerkrieges erklärt werden: Die finanziellen Interessen, die familiären, Clan- oder Stammesverbindungen, die Korruption und die Soziologie des Checkpoints führen dazu, dass z.B. wirtschaftlicher Austausch und Handel zwischen belagerten Rebellengebieten und dem loyalistischen Territorium weitergehen.
[11] Syrian War Report, 7. September 2017.
[12] Drei Strassenachsen verbinden Syrien und den Irak: Die erste im Norden geht durch die Hochburgen der YPG; die zweite in Al-Tanf im Süden ist von der amerikanischen Armee kontrolliert; der dritte in Abu Kamal im Zentrum wird vom IS gehalten.
[13] Danyves, „L‘Est syrien, enjeu véritable des quatrièmes négociations d‘Astana pour la paix en Syrie“, 18. Mai 2017.
[14] Ist es notwendig, zu präzisieren, dass, wenn man von den Handlungen einer politisch-militärischen Organisation (die PYD-YPG als Repräsentation lediglich eines Teils der Kurden in Syrien, wahrscheinlich einer Minderheit) spricht, man nicht „die Kurden“, das „kurdische Volk“ oder das kurdische Proletariat „kritisiert“? Wir werden hier nicht weiter auf all diese Punkte eingehen, auf welche, betreffend Rojava, im vorhergehenden Artikel „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“, in „A Letter to Rojavist Friends“ (Mai 2016) und in „Kurdistan?“ (Januar 2015) eingegangen worden war.
[15] Wahrscheinlich ist es der Einsatz von chemischen Waffen durch Damaskus, welcher es dem Westen erlaubt, Raqqa oder Tabqa mit weissen Phosphorgranaten zu bombardieren, sie sind durch alle internationalen Konventionen verboten… Luc Matthieu, „À Raqqa, des obus au phosphore blanc“ in Libération, 11. Juni 2017.
[16] Luke Mogelson, „Dark Victory in Raqqa“ in The New Yorker, 6. November 2017.
[17] Diese Art von Abkommen ist von einer grossen Banalität im syrischen Konflikt, doch, da die Medien damals auf Raqqa konzentriert waren, provozierte es Erstaunen und Unverständnis; die Verschwörungstheoretiker sahen darin sogar den Beweis für die Kollusion zwischen dem IS und Washington.
[18] Antoine Hasday, „À Raqqa, les tribus arabes accepteront-elles un pouvoir kurde?“, 11. Juli 2017.
[19] Andrew J. Tabler, „Eyeign Raqqa. A Tale of Four Tribes” in The Washington Institute, März 2017, S. 7-8.
[20] Im Juli 2017 versuchte die Türkei, Washington zu stören, indem sie durch die Presseagentur Anandolu die Lokalisierungsdaten und die Anzahl stationierter Truppen von zwölf im syrischen Kurdistan stationierten Stützpunkten (in einem davon sind die französischen Spezialkräfte stationiert) bekanntgab.
[21] Alexandre Alati, „Objectif Raqqa. Les moyens d‘appui US en Syrie“ in Raids, Nr. 375, Oktober 2017, S. 48-57. Ende November wurde der Rückzug eines Bataillons von Marines angekündigt, siehe Laurent Lagneau, „L‘EI ayant été défait à Raqqa, plus de 400 militaires américains vont quitter la Syrie“, 30. November 2017.
[22] Laurent Lagenau, „Le président Trump approuve la livraison d‘armes aux milices kurdes syriennes“, 10. Mai 2017.
[23] Die Schliessung des Azaz-Korridors im Februar 2016 durch eine gemeinsame Offensive der AAS, der Hizbollah und der YPG gegen die „Rebellen“ kann als Prämisse für eine Erstickung der Stadt betrachtet werden, wovon er eine bedeutende Versorgungsachse darstellte. Im Juli in Aleppo unterstützen die YPG die Truppen aus Damaskus vom kurdischen Quartier Scheich Maksud ausgehend dabei, die strategische Strasse von Castello zu unterbrechen, die letzte Versorgungsachse der rebellischen Quartiere, die nun komplett umzingelt sind und allmählich von der AAS zurückerobert werden.
[24] Kämpferinnen, die manchmal innerhalb spezifischer Einheiten gruppiert werden, den YPJ, deren wirkliches Gewicht schwierig einzuschätzen ist, da sie von den Kommunikationsverantwortlichen der PYD dermassen mediatisiert worden sind (und auch von der westlichen bürgerlichen und Aktivistenpresse). Wenn man einen auch nur minimal aufmerksamen Blick hat, merkt man, dass die Frauen der YPG-YPJ zwar massiv während Zeremonien, Presseterminen und Reportagen von akkreditierten Journalisten hinter der Front präsent sind (in der Regel in ihren eigenen Uniformen), doch viel seltener auf den Bildern aus der Hitze des Gefechts.
[25] „Syrian Kurds Face Fresh Test Ruling Arab Regions after Isis“ in Financial Times, 30. November 2017.
[26] Wird das Wort „Rojava“ gar nur im Westen gebraucht? Der Eid der Demokratischen Föderation Nordsyriens ist folgender: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und beim Blut der Märtyrer*innen, den Gesellschaftsvertrag und seine Bestimmungen zu befolgen, die demokratischen Rechte des Volkes zu bewahren und die Werte der Märtyrer*innen, die Freiheit, den Frieden und die Sicherheit auf dem Territorium der Demokratischen Föderation Nordsyrien und des föderalen Syrien zu schützen und zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit im Einklang mit den Prinzipien der demokratischen Nation beizutragen.“
[27] Fabrice Balanche, „Un Kurdistan indépendant peut-il vraiment émerger du chaos syrien?“ in Le Figaro, 26. August 2016.
[28] Im Oktober führte das gegen die Einwohner von Raqqa ausgesprochene Verbot, in ihre Stadt zurückzukehren, zu Demonstrationen in den Flüchtlingslagern. Es war aufgrund der Probleme der Minenräumung und polizeilichen Notwendigkeiten ausgesprochen worden, denn die YPG mussten (unterstützt von den westlichen Diensten) unter den Durchschnittszivilisten die Anhänger, Funktionäre oder Kämpfer des IS ausfindig machen. Nach drei Wochen erhielten die ersten Einwohner die Erlaubnis, nach Hause zurückzukehren. Doch aufgrund des Zustands von Raqqa und der mangelnden Vorbereitung auf die Verwaltung der Flüchtlinge ist es wahrscheinlich, dass Zehntausende von ihnen den Winter in aus Zelten bestehenden Lagern verbringen werden.
[29] Tom Perry, „Syrian Kurdish YPG Aims to Expand Force to over 100’000” in Reuters, 20. März 2017.
[30] Wenn in Frankreich wie in den 1970er und 1980er Jahren eine antimilitaristischer Diskurs existieren würde, würden sich die Aktivisten der dazu passenden Organisationen für diese Ereignisse interessieren. Denn viele der aus Syrien stammenden Einwanderer, welche in Europa ein Refugium gefunden haben, sind faktisch Deserteure oder Kriegsdienstverweigerer, sowohl aus dem loyalistischen als auch dem kurdischen Gebiet. Sogar die OFPRA [französische Behörde für Flüchtlinge] hat in den Dokumenten, die sie nutzt, um den Lebenslauf der Flüchtlinge zu analysieren, auf die Einführung der obligatorischen Wehrpflicht in den kurdischen Kantonen aufmerksam gemacht, siehe OFPRA-DIDR, Conflit syrien. Les régions kurdes de Syrie, chronologie et bibliographie, OFPRA, 29. Januar 2016.
[31] Einige erwähnen Saudi-Arabien, unter der Bedingung, dass die YPG ein Stachel im Fleisch seiner Gegner (Türkei, Iran, Katar) bleiben. Alain Rodier, „Iran: pourquoi Téhéran tient ses Kurdes?“ in Note d‘actualité, Nr. 482, CF2R, 6. September 2017 und Aron Lund, „Winter Is Coming: Who Will Rebuild Raqqa?“, 23. Oktober 2017.
[32] „Entretien avec Pierre Bance“ in Le Comptoir, 20. Oktober 2017.
[33] Groupe d’amitié France-Syrie du Sénat, „Entretien avec M. Khaled Issa, représentant du Rojava en France“, Juni 2016.
[34] Seite „Le contrat social“ auf der Homepage der Repräsentation Rojavas in Frankreich.
[35] „Entretien avec Pierre Bance“, op. cit.
[36] „Milices chiites, principale menace de l‘après-Daech?“ in Cultures monde, France culture, 7. November 2017.
[37] Es würde darum gehen, den Einfluss des Irans zu beschränken, und sich dafür eventuell Saudi-Arabien anzunähern. Tim Kennedy, „Rééquilibrer les liens avec l‘Irak“ in Arabies, Nr. 367, November 2017, S. 34-39.
[38] Siehe das Kapitel „Eine Wirtschaft in Fetzen“ in „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“ und, für aktuellere Zahlen, William Plummer, Isabelle de Foucaud, „Le désastre de l‘économie syrienne après six ans de guerre“ in Le Figaro, 7. April 2017.
[39] Benjamin Barthe, „Reconstruction en Syrie : les entreprises acquises au régime favorisées“ in Le Monde, 3. April 2017.
[40] Ägypten will nicht, dass diese Investoren das Land verlassen und hat den Bau einer Industriezone für die syrischen Unternehmer angekündigt, welche 70 bis 80 Unternehmen diverser Sektoren gruppieren soll, besonders des Textil-, Lebensmittel- und Pharmazeutiksektors. „Ministry of Trade Studies Launching Syrian Industrial Zone in Egypt“ in Al-Bawaha Egypt, 4. April 2017.
[41] Tom Rollin, „Syria’s Reconstruction Plans Take Shape“, 22. Mai 2017.
[42] Mohammed Ghazal in Amman, „Les promoteurs arabes réfléchissent à la reconstruction de la Syrie“, 10. August 2017.
[43] Einige haben sich einen Vorsprung herausgeholt, so z.B. jener Zementhersteller aus Beirut, der ab 2012 Land gekauft und ein Depot in Homs gebaut hat, um am Tag X gut platziert zu sein, siehe J. Philippine de Clermont-Tonnerre, „Syrie: le Liban aux avant-postes de la reconstruction“ in TV 5 Monde, 17. September 2016.
[44] Alexis Feertchak, „Pour sa reconstruction, la Syrie se tourne vers l’Asie“ in Le Figaro, 12. September 2017.
[45] Jihad Yazigi, „Les pénuries mettent en lumière la fragilité syrienne“ in Le Commerce du Levant, März 2017.
[46] Renaud Toffier, „Syrie, Irak : le temps de la reconstruction“, 9. August 2017.
[47] Jihad Yazigi, „La Chine hésite à développer sa relation économique avec Damas“ in Le Commerce du Levant, August 2017.
[48] „China to Invest US$2 Billion in the Reconstruction of Syria“, Juli 2017 und „The New Silk Road Will Go through Syria“ in Asia Times, 13. Juli 2017.
[49] „Syrie : mouvement de retour de réfugiés et de déplacés depuis le début de l’année“, RFI, 1. Juli 2017, „Syrie : plus de 600 000 Syriens sont rentrés chez eux depuis janvier“, Europe 1, 14. August 2017.
[50] Syria at War, Five Years On, ESCWA and University of St Andrews, 2016.
[51] Und obwohl es in der Geschichte der zwischenstaatlichen Kriege grosse proletarische Bewegungen gab (Pariser Kommune, russische Revolutionen 1905 und 1917), war das im Falle von Bürgerkriegen nie der Fall. Man konnte 2003 von einer Kommune von Bagdad träumen, aber nicht von einer Kommune von Mosul 2017.
[52] Besonders in Bezug auf die Schlussfolgerung unseres vorhergehenden Artikels, die wir hier grösstenteils reproduzieren könnten. Siehe „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“, Juli 2016.
[53] Zu dieser Frage, siehe Die Freunde vier Millionen junger Arbeiter, „A World without Money: Communism“, 1976; Bruno Astarian, „Crisis Activity and Communisation“, 2010; Gilles Dauvé, De la crise à la communisation, Genf/Paris, Entremonde, 2017.