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Ecuador: Eine kurze Bilanz über den proletarischen Kampf

Samstag 19. Oktober 2019

Analyse aus Ecuador über den 11-tägigen Aufstand.

Das Proletariat wird durch seine eigene Natur als lohnabhängige und ausgebeutete Klasse in den Klassenkampf geworfen, ohne dass es Lektionen von irgendjemandem bedarf; es kämpft, weil es überleben muss. Wenn das Proletariat sich als bewusste revolutionäre Klasse konstituiert, also als Gegenpol zur Partei des Kapitals, muss es sowohl die theoretischen als auch die praktischen Erfahrungen des Klassenkampfes und seiner Geschichte aufnehmen. Nur so lassen sich unvermeidliche Fehler überwinden, die begangenen Fehler kritisch korrigieren und die politischen Positionen - anhand einer Bewusstwerdung der eigenen Defizite oder blinden Flecke - stärken. So lässt sich das Programm des Proletariats vervollständigen. Kurz gesagt, geht es darum, die noch nicht gelösten Probleme zu lösen: d. h. aus den Erkenntnissen, die uns die Geschichte selbst hinterlassen hat, zu lernen.
Und dieses Lernen kann nur in der Praxis des Klassenkampfes erfolgen, in der Praxis der verschiedenen revolutionären Affinitätsgruppen und der verschiedenen Organisationen des Proletariats. [1]

Verschiedene Schwächen und Widersprüche, wie auch der ideologische Ballast und unterschiedliche praktische Fehler, durchdrangen die reale Bewegung, die während den letzten Oktobertagen dieses Jahres Ecuador erschütterte. Dazu zählen: Der Mangel an Radikalität und Autonomie gegenüber dem kapitalistischen Staat, der Dialog und die Verhandlungen mit der Regierung, die Forderung nach Vermittlung der UNO, die Spaltung innerhalb der indigenen Bewegung zwischen einigen Führungskräften und der Basis, der Pazifismus einiger Akteur*innen der Bewegung, die Einstellung der Mobilisierungen im Zuge der Rücknahme des Treibstoffdekrets, der Ruf nach Neuwahlen, die Abwesenheit einiger proletarischer Sektoren, die Anwesenheit opportunistischer Politiker, die in der Hitze des Gefechts versuchten ihre politische Karriere anzukurbeln, die nationalistische und populistische Diskurse und Symbole, der Mangel an Klarheit was Organisation und offensive Strategien angeht. Trotz allem, sahen wir in Ecuador, während den 11 Tagen der Unruhe, eine wahre proletarische Revolte mit aufständischen Tendenzen, die es schaffte den bürgerlichen Staat herauszufordern und zu einem Rückzug zu bewegen. Die Bewegung tat, was getan werden konnte, was die wirklich existierenden Kräfte zu tun erlaubten, nicht mehr und nicht weniger. Konkret heißt das, dass die letzten kapitalistischen Sparmaßnahmen bzw. der paquetazo der Regierung Morenos, d. h. das Dekret 883, teilweise abgeschafft wurden. Dies wurde auf den Straßen, Tag für Tag und Nacht für Nacht erkämpft. Und, wie Marx sagte, ein Schritt vorwärts der realen Bewegung ist mehr wert als ein dutzend Programme.

Der Teilsieg vom 13. Oktober (der aufgrund unserer Toten und dem Fortbestehen einer Regierung von Dieben und Mördern mitsamt ihren verheerenden Arbeitsreformen, einen bitterer Nachgeschmack hinterlässt) war das Ergebnis aller direkten Aktionen der Massen seit dem 3. Oktober: Regierungsinstitutionen, Ölquellen, Autobahnen wurden eingenommen, Demonstrationen und die sogenannten „Topfschlag-Proteste“ (cacerolazos) organisiert, Streikposten und Barrikaden errichtet, Geschäfte geplündert, Polizeiregimente und Panzer abgefackelt, Polizisten und Militärs gefangen genommen und festgehalten, der Präsident war gezwungen, nach Guayaquil zu fliehen und in der Hauptstadt, dem Epizentrum des Generalstreiks, wurde die Kommune von Quito errichtet. In 11 Tagen wurde mehr erreicht als in den letzten 11 Jahren. 11 Tage lang war ein partieller, flüchtiger, prekärer aber realer Bruch mit der kapitalistischen Normalität zu beobachten, insbesondere innerhalb der Proteste selbst: Anstelle von Lohnarbeit, Warenverkehr, Privateigentum und Geld, standen Solidarität und Kostenlosigkeit (in den Sammelzentren und den „Volksküchen“). Diskussionen und kollektive Entscheidungsfindungen in den Vollversammlungen standen ebenfalls auf der Tagesordnung, genauso wie die mutige Selbstverteidigung auf den Barrikaden gegen die brutale Unterdrückung durch die uniformierten Wachhunde der Reichen und Mächtigen. Kurz gesagt, während den 11 Tagen der Revolte, haben die Ausgebeuteten und Unterdrückten einen freien Raum des Kommunismus und der Anarchie geschaffen und gelebt; ein spontaner, chaotischer, widersprüchlicher, lokal begrenzter, kurzlebiger, aber echter Freiraum. All dies war keine Kleinigkeit, es war ein historisches Ereignis mit weltweitem Echo, wenn man bedenkt, dass die proletarischen Massen auf dem Land und in der Stadt der ’Mitte der Welt’ so viele Jahre lang geschlafen haben oder inaktiv waren und es endlich nicht mehr sind. Sie explodierten wie Vulkane und sind immer noch glühend heiß. Und die autonomen Antikapitalist*innen, die als Bestandteil der proletarischen Massen an den Kämpfen teilnahmen, ebenfalls.

Auch die Toten und Verletzten durch den Staatsterrorismus sind keine Kleinigkeit. Es waren keine ’Unfälle’, es waren Verbrechen des Staates. Wir werden weder vergeben noch vergessen! Über die Toten zu schweigen oder die Morde des Staates kleinzureden, wie es einige rechte und sogar linke Akteur*innen tun, ist zynisch und zeugt von Respektlosigkeit gegenüber den Angehörigen und den Genoss*innen die ihnen nahe standen. Das Mindeste, was es jetzt, nach der Zuspitzung des Klassenkampfes, braucht, ist: Solidarität mit den inhaftierten Genoss*innen und den Familien der gefallenen Genoss*innen, ein entschlossenes Anprangern des Staatsterrorismus und der Regierung, die in diesem Moment gezielt gegen Mitglieder*innen sozialer Organisationen vorgeht, die am Streik teilgenommen haben, es gilt ebenfalls wachsam zu bleiben um neue, verschleierte und „angepasste“ Sparmaßnahmen zu verhindern (ein allfälliges neues Dekret beispielsweise), oder um sich gegen den Beginn der Privatisierungen zu wehren. Auch die für Ende dieses Monats angekündigten Mobilisierungen gegen die noch immer gültigen Flexibilisierungs-/Prekarisierungs-Arbeitsreformen dürfen nicht vernachlässigt werden und, was ebenfalls wichtig sein dürfte, die spontane Organisierung, die während den sozialen Unruhen entstand, sollte aufrechterhalten werden, damit die gesammelten Erfahrungen nicht untergehen und die Bewegung sich mittel- und langfristig radikalisieren kann und sich eine autonomen und revolutionären Perspektive verallgemeinern kann. In diesem Sinne hat der Kampf erst begonnen. Es geht weiter. Bis zum Ende. Denn es geht nicht darum, mit dem kleinsten Übel zu überleben, sondern wirklich zu leben. Und es geht nicht darum, die Herrschenden auszuwechseln, sondern die gesamte Herrschaft loszuwerden.

Es ist die begrenzte, mangelnde Befriedigung der konkreten Alltagsbedürfnisse und nicht irgendeine Ideologie, die die Arbeiterklasse dazu bringt, sich gegen die Herrschenden und den Staat aufzulehnen. Im Inneren dieses Kampfes entstehen und entwickeln sich bewusste, organisierte und aktive Minderheiten, die bestrebt sind, die Erinnerung, die Lehren und die schwarz-rote Flamme der proletarischen Revolution am Leben zu erhalten. Es ist eine Sache, revolutionär zu sein und sich im wirklichen und widersprüchlichen Klassenkampf ’die Hände schmutzig machen’, dort zu sein, wo es brennt, die Solidarität und den Kampfeswillen unserer proletarischen Klasse bei eigenem Leibe zu erleben, persönliche Streitereien oder Konflikte unter verschiedenen Gruppen beiseite zu legen, mit selbständigem und kritischem Geist, wie auch mit Demut, ohne ideologische Vorurteile, so viel wie möglich beizutragen und zu lernen (sowohl auf den Barrikaden als auch in den Sammelzentren und Vollversammlungen). Eine ganz andere Sache jedoch, ist es, von der Bequemlichkeit des eigenen Bettes, hinter dem Bildschirm, dem Schreibtisch oder vom Bürgersteig aus, sich Revolution auf die Fahne zu schreiben und im Einklang mit eurozentristischen/rassistischen, pazifistischen, die Rolle der Arbeiter*innen affirmierenden und puristischen Ideologien, sich selbst als ’Kommunist*in’ und ’Internationalist*in’ zu inszenieren. Genauso Ablehnungswert ist die ’marxistisch-leninistisch-maoistische’ Ideologie mit ihrer ’Avantgarde’ und auch die ’anarchistisch’- nihilistische bzw. die ’mir-doch-alles-scheissegal’ Ideologie. Wie auch immer. Die soziale Revolution entsteht nicht durch Ideologien, vielmehr ist sie immer eine reale oder materielle Tatsache und daher diffus und widersprüchlich. Dies muss man im Hinterkopf behalten während man Seite an Seite mit den Massen und anderen darin aktiven Minderheiten kämpft, denn wir müssen gegen die Klassengegner*innen zusammenhalten wenn der soziale Krieg ausbricht, wie er hier ausgebrochen ist.

Selbstverständlich sind wir hier und überall noch weit entfernt von der kommunisch-anarchistischen Weltrevolution. Die Bedingungen und Kräfte dafür sind noch nicht gegeben, aber irgendwo muss man nach so langer historischer Lethargie ja beginnen. Der aufkommende und gegenwärtige proletarische Kampf in Ecuador (die indigenen Massen sind Teil der proletarischen Massen, sie sind Teil des Landproletariats, sie sind nicht ’ein nicht ausgebeuteter Sektor’. Es gilt auch nicht zu vergessen, dass die proletarischen Massen der Städte sich ebenfalls an den Kämpfen beteiligten) ist Teil einer ganzen internationalen Welle von proletarischen Kämpfen (Haiti, Hongkong, Frankreich, Algerien, Irak, etc.). Damit endet langsam ein historischer Zyklus der Konterrevolution, der durch Sparmaßnahmen und staatlicher Repression charakterisiert war, und ein neuer Zyklus des Klassenkampfes verbreitet und intensiviert sich inmitten der gegenwärtigen kapitalistischen Weltkrise.

Die Rolle der revolutionären Minderheiten besteht wie immer darin, die Entwicklung der proletarischen Autonomie zu fördern und den Bruch mit dem kapitalistischen System, in jeder Hinsicht zu vertiefen, d.h. dazu beizutragen, dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten, sich mit eigener Kraft vollständig vom Kapital und dem Staat befreien können. Es gilt auch das unveränderliche Programm der sozialen Revolution, das inmitten der historischen Kämpfe des Weltproletariats geschmiedet wurde, wieder aufzugreifen, um es ein für allemal Wirklichkeit werden zu lassen. Zu diese Programm gehört die Abschaffung und Überwindung von: Privateigentum, Lohnarbeit (in all ihren Formen), Wert, Geld, Klassen, Staat, Markt, Nationen, „Rassen“, Geschlechter und allen anderen Formen der Trennung und der Unterdrückung gegenüber Mensch und Natur, die verhindern, dass eine echte Gemeinschaft in echter Freiheit leben kann.

Aber all das ist nur möglich, wenn man an den realen sozialen Kämpfen teilnimmt, wenn man sich die Hände schmutzig macht, wenn man Fehler macht, Erfolge feiert, entschlossen voranschreitet und den Widerspruch zwischen Fortschritte, Rückschläge, Siege und Niederlagen aushält. Mann muss aktiver und fester Teil der revoltierenden Masse sein, der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse, die für ihre materiellen Bedürfnisse kämpft. Nur aus den sozialen Kämpfen heraus und nicht aus der Ideologie, der Bequemlichkeit oder dem Zynismus, lassen sich empirische und theoretische Erkenntnisse gewinnen, die uns helfen können unsere Schwächen und Widersprüche zu überwinden, immer mit der klaren und unerschütterlichen Perspektive im Kopf, die Revolution bis zum Ende zu bringen, d.h. bis zum Sturz dieses ganzen Systems der Ausbeutung, des Elends und des Todes. Deshalb sagen wir aus dem Herzen des Widerstandes heraus und unsere Würde hochhaltend, eine Würde die nur der soziale Kampf gewährt: für unsere Toten und für unser Leben: keine einzige Minute des Schweigens, nur ein lebenslanger Kampf! Die Solidarität ist unsere beste Waffe und wird die Herrschenden wieder zittern lassen!

Einige angepisste Proletarier*innen aus Ecuador.

Für die kommunistisch-anarchistische Weltrevolution!

Aus dem Spanischen übersetzt von Mariana Lautréamont.

Quelle


[1Agustín Guillamón, Proletariat und soziale Klassen heute (2013).