Startseite > Artikel > Palästina: Volk oder Klasse? Interview mit Emilio Minassian
Palästina: Volk oder Klasse? Interview mit Emilio Minassian
Mittwoch 29. Januar 2025
Erster Teil
Als Fortsetzung und Vertiefung der Debatte, zu der es mit Emilio Minassian am libertären Treffen in Quercy diesen Sommer kam, und zur Verteidigung einer klassenspezifischen Lesart und Perspektive auf die Situation in Palästina-Israel haben wir ihm einige Fragen gestellt. In einem ersten Teil werden wir über die Integration der Region Israel/Palästina in den globalen Kapitalismus und die Klassenzusammensetzung in Palästina sprechen. In der nächsten Nummer werden wir die Auswirkungen auf die proletarischen Kämpfe und den nationalen Befreiungskampf erörtern.
Als Einleitung zu den Äusserungen
Zuerst einige Worte dazu, „woher ich spreche“, wie man sagt. Ich bin nicht Palästinenser, ich verbrachte regelmässig einige Monate im Westjordanland und ging den üblichen Beschäftigungen jener linken Westler nach, welche in die besetzten Gebiete reisen: solidarische Aktivitäten, kurze Dokumentarfilme, folgenlose akademische Forschungsarbeit. Es lässt sich wahrscheinlich weitgehend als eine Form aktivistischen Tourismus beschreiben, in einer autonom-marxistischen Variante.
Ich versuchte ziemlich schnell jenen gesellschaftlichen Rahmen zu umgehen, in welchen sich der propalästinensische Aktivismus hineinprojiziert, nämlich nicht mit „Profis“ der Unterdrückungserzählung während abgesteckten Treffen herumzuhängen. Das habe ich mehr oder weniger geschafft, je nach Perioden, Zusammenhängen und aufgewendeter Energie, und ich war eher an der Seite der Arbeitslosen und Schurken der Flüchtlingslager als an jener der Arbeiter (geschweige denn Arbeiterinnen): Die Arbeitslosen haben freie Zeit und die Schurken haben häufig Lust, ihre Geschichten des Kampfes gegen die (israelischen, aber auch palästinensischen) bewaffneten Kräfte, der Einsperrung und der (sowohl in den israelischen als auch palästinensischen Kerkern praktizierten) Folter zu teilen.
Seinen Mund aufzumachen, um zu sagen, dass „es in Palästina gesellschaftliche Klassen gibt“, mag in einem Kontext, wo die Bevölkerungen im Gazastreifen im Bombenhagel ertränkt werden, schräg erscheinen. Wahrscheinlich würde ich es nicht oder auf andere Art und Weise tun, wenn ich mich im Gazastreifen und nicht im Westjordanland herumgetrieben hätte. Ich mache es nicht, um das Massaker auf Distanz zu halten, sondern um die Idee einer radikalen Andersartigkeit, einer Äusserlichkeit im Verhältnis zu dem zu bekämpfen, was hinsichtlich der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse geschieht, dort genau wie hier.
Du verteidigst die Idee, dass Israel-Palästina im globalen kapitalistischen Raum und in jenem der Region eine Einheit darstellt. Kannst du uns erklären, warum?
Ursprünglich konzipiert das zionistische Projekt eine getrennte jüdische Gesellschaft in Palästina. Dieses Projekt führt zur ethnischen Säuberung 1947-1948, die, obwohl sie nicht vollständig ist, einen „jüdischen“ Raum erschafft, der damals im Wesentlichen europäischen Ursprungs ist. 1967, mit der Besetzung des Gazastreifens und des Westjordanlands, zuvor von Ägypten für ersteren und Jordanien für letzteres annektiert, ist die Bevölkerung des von Israel verwalteten Territoriums nicht mehr hauptsächlich jüdisch. Zur gleichen Zeit entsteht ein eigentlich palästinensischer – und nicht mehr „arabischer“ – Nationalismus. Man konnte damals den Eindruck gewinnen, zwei „Nationen“ würden sich auf dem gleichen Territorium entgegenstehen. Doch aus diesem palästinensischen Nationalismus ist bis heute keine andere getrennte staatliche Entität entstanden, als jene auf der Grundlage der Verwaltung von „Kesseln“, im Gazastreifen und im Westjordanland. Das von Israel kontrollierte Territorium besteht nicht einerseits aus jüdischen, andererseits aus palästinensischen Territorien. Es gibt zahlreiche mehrheitlich palästinensische Gebiete in den Territorien des 1948 gegründeten Staates und eine bedeutende Siedlerbevölkerung im Westjordanland. Dieses Territorium ist ein Puzzle, in welchem die nationalen Unterscheidungen, vorausgesetzt, dass man von subjektiven Zugehörigkeiten absieht, selbst in zahlreiche Untergliederungen unterteilt sind, diese sind ihrer Ethnisierung halber (auch auf „jüdischer“ Seite) heutzutage von gesellschaftlicher Natur und alle Teil der israelischen Wirtschaft.
Von „der Einheit des Raumes“ zwischen Israel und Palästina auszugehen, ist also eine Art und Weise, eine Analyse der palästinensischen Frage als eine eines durch ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl und eine einzige und gemeinsame Enteignung vereinten „Volkes ohne Staat“ zu überwinden. Diese Lesart tendiert dazu, gesellschaftlich hervorgebrachte nationale Kategorien zu essentialisieren und zudem die Gewalt des israelischen Staates in einer Kontinuität seit 1948 zu verankern, was die Tatsache nicht berücksichtigt, dass sie Teil globaler Dynamiken ist.
Was sich seit einem Jahr abspielt, ist weder ein Krieg, an dem sich zwei sich gegenüberstehende nationale Räume beteiligen, noch eine Eroberungsunternehmung, welche die Beschlagnahme von Rohstoffen und Märkten zum Ziel hat. Es ist nicht das „palästinensische Volk“, das man im Rahmen eines Kampfes um die Existenz, in dem sich zwei Nationen gegenüberstehen, im Bombenhagel ertränkt. Der Gazastreifen ist keine ausserhalb von Israel stehende gesellschaftliche Entität. Er ist seit etwa 60 Jahren in den israelischen Kapitalismus, den israelischen Markt integriert. Die dort lebenden Palästinenser sind in ihrer überwiegenden Mehrheit Proletarier ohne eigene Ressourcen, die mit israelischem Geld gekaufte israelische Waren konsumieren, aber keine Arbeiter, deren Arbeit ausgebeutet wird. Es sind Überschüssige, die das israelische Kapital in den 1990er Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen und, gemäss einer Logik der Animalisierung, die Teil der kolonialen Geschichte ist, in ein immenses, einige Dutzend Kilometer von Tel Aviv entferntes „Reservat“ gepfercht hat.
Kannst du etwas näher auf die Geschichte der Integration dieses Raumes (und seiner Arbeitskraft) in den kapitalistischen Markt eingehen?
Vom Standpunkt des Marktes aus betrachtet, ist der „palästinensische“ Raum durch die Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg konstituiert worden. Am Anfang steht eine Situation, in welcher feudale Strukturen und eine sich andeutende Handelsbourgeoisie vorherrschen. Das Mandat und der Zionismus markieren den eigentlichen Beginn der Proletarisierung der arabisch-palästinensischen Bauernschaft, doch der wirkliche Auslöser ist 1948 mit der Nakba. Palästinensische Bourgeois und Feudalherren verlassen das unter israelische Kontrolle gekommene Territorium mit ihren beweglichen Gütern unter den Armen; die palästinensischen Bauern, mehrheitlich in Halbpacht, werden von ihrem Land verjagt und in Lagern zusammengepfercht.
Man kann den israelischen Kolonialismus in drei Zyklen unterteilen. In einer ersten Phase (1948-1967) ist es eine Typologie, die gegenüber der palästinensischen Bauernschaft der Siedlerkolonie ähnelt: ethnische Säuberung, Landraub, „jüdisches“ Kapital und „jüdische“ Arbeit. Als logische Folge davon wurde, wie ich es vorher gesagt habe, ein jüdisches Proletariat aus der arabischen Welt importiert, dieses war seinerseits ethnisiert und in ein koloniales Verhältnis der Animalisierung und Ausbeutung eingebettet. Die Kapitalakkumulation geschah während dieser Periode unter der Knute eines allmächtigen Planerstaates, kontrolliert von den aschkenasischen und sozialistischen Eliten mit einer in den Staat integrierten Gewerkschaftsbewegung.
In einer zweiten Phase, zwischen 1967 und ungefähr 1990, mit der Eroberung des Gazastreifens und des Westjordanlands, gehen wir in eine koloniale Situation des Typs „Ausbeutung der eingeborenen Arbeitskraft“ über. Der israelische Kapitalismus tritt in eine intensive Phase der Integration ins internationale Kapital ein, unter anderem via die Rüstungsindustrie. Während ungefähr 20 Jahren erlebt das Proletariat des Gazastreifens und des Westjordanlands seinerseits eine massive Integration in die Lohnarbeit in die am wenigsten qualifizierten Sektoren: Bauwesen, Landwirtschaft usw.
Die Osloer Abkommen läuten eine neue Phase ein, jene eines kolonialen Verhältnisses, das rund um die Figur des palästinensischen Überschüssigen und der Fremdvergabe seiner Verwaltung strukturiert ist. Israel behält die Kontrolle über das Territorium, setzt seine Offensive der Zerstörung der Bauernschaft fort und beauftragt eine aus dem Befreiungskampf entstandene nationale Struktur mit der Verwaltung der palästinensischen Proletarier, die in geschlossene urbane Zonen eingepfercht worden sind.
In diesem Kontext kommt es zu einer Integration der Handelsbourgeoisien, die der Nakba entkommen waren – jene, welche in Hebron und Nablus verankert und Teil des von Jordanien zwischen 1948 und 1967 annektierten Territoriums waren –, in diese aus der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) entstandene Führungsschicht. Integriert in den Sicherheitsapparat der PA (Palästinensische Autonomiebehörde), hat sie einen doppelten Ursprung: Es gibt die „äusseren“ Anführer, die 1994 und 1996 mit Arafat zurückkehrten, und die „inneren“, hervorgegangen aus der Ersten Intifada und den israelischen Gefängnissen. Es ist eine bunt gemischte, in konkurrierende Fraktionen gespaltene Klasse. Sie profitiert von einer internationalen Sicherheitsrente, doch sie kontrolliert auch ganze Sektoren der Wirtschaft der besetzten Gebiete, im Bauwesen, den Infrastrukturen, der Telekommunikation und natürlich dem Import/Export mit Israel. All diese Sektoren sind mit dem israelischen Markt und israelischen Investitionen verbunden.
Markiert der Gazakrieg nicht den Eintritt in eine neue Phase?
Davon kann man ausgehen. Die Phase nach Oslo war geprägt von der Inflation der Kontrolltechniken, die von Israel gegen dieses im Wesentlichen unproduktiv gewordene Proletariat aufgeboten wurde: Aufteilung des Territoriums in Mikroregionen, Einführung eines verrückten Genehmigungssystems zur Bewilligung von Reisen, Arbeit und Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, generalisierte Fichierung, Überwachung der sozialen Netzwerke, digitales System der Gesichtserkennung, aber auch massive Willkür (hinsichtlich der Verhaftungen, der Öffnung oder Schliessung von Durchgängen, dem Zugang zu Genehmigungen), um die Verhaltensweisen zu „testen“. Diese Technologien und dieses Know-how wurden massiv exportiert und sind somit wertproduzierend.
Es scheint mir, dass wir seit letztem Jahr in die militärische Dimension dieser experimentellen Logik eingetreten sind. Die gegenwärtige Praxis der Zerstörung und der Massaker ist nicht nur grenzenlos: Sie ist akribisch, überlegt, kontrolliert und gleichzeitig hat man Mühe, zu erkennen, welcher „Sieg“ angestrebt wird. Meine Hypothese ist, dass die Massaker im Gazastreifen eine experimentelle Sequenz darstellen, die für den globalen Kapitalismus nützlich ist – genau wie es auf andere Art und Weise mit der ein starkes Ausmass an „Biomacht“ implizierenden Logik des „Stop and Go“ der Weltwirtschaft während der Covid-Pandemie der Fall war. Aber Achtung, es geht nicht darum, hier auf postmodern zu machen und zu behaupten, irgendeine Herrschaftslogik sei von den kapitalistischen Verhältnissen autonom geworden. Die überschüssigen Proletarier aus dem Gazastreifen haben keine produktive Funktion mehr für das israelische Kapital, doch der führende Sektor der Kontrolltechnologien mit hoher Wertschöpfung „braucht“ sie als Versuchskaninchen, um daraufhin seine internationale Zirkulation zu garantieren. So testet man die Bombardierungen und das Profiling von Individuen mit künstlicher Intelligenz und verwaltet das Verhältnis zur Hungersnot mit einer Akribie, die zum Ziel hat, stets am Rande der Mangelernährung zu bleiben (bis heute), man tut das Gleiche mit den Epidemien, usw.
Diese Logik der endlosen militärischen Aggression gegen die überschüssigen Proletarier im Gazastreifen wird eifrig von den westlichen Mächten unterstützt: Alle politischen Gestikulationen bezüglich einer Mässigung sind blosses Theater (es reicht, die Frage der Waffenlieferungen mit der Ukraine zu vergleichen, um festzustellen, dass ihre Verbündeten der israelischen Kriegsmaschinerie keine Grenze setzen).
Du sprichst von einer Bourgeoisie und einem Proletariat in Palästina. Könntest du uns die Klassenzusammensetzung im Gazastreifen und im Westjordanland skizzieren und die Bedingungen erklären, unter welchen der Kampf zwischen den Klassen stattfindet? Determiniert der Status gegenüber Israel diese Klassenzugehörigkeit?
Die palästinensische Bourgeoisie bildet nicht eine fest konstituierte nationale Klasse: Sie bleibt in der Tat abhängig von ihrer Unterordnung unter das israelische Kapital und den israelischen Staat. Die palästinensischen Kapitalisten (wenn man darunter „ursprünglich aus Palästina kommend“ versteht) bevorzugen spontan, falls sie frei investieren können, ihre Kapitale ausserhalb des palästinensischen Territoriums – und somit ausserhalb des nationalen Rahmens Israels – zu realisieren. Es ist unbestreitbar, dass die israelische Besatzung die Entwicklung einer territorialisierten palästinensischen kapitalistischen Klasse erzwungen hat. Eine amerikanische Forscherin (Sara Roy) hat den Begriff „De-Entwicklung“ zur Bezeichnung der Art und Weise, wie Israel die Schaffung einer „freien“ Marktwirtschaft, d.h. als Teil des Weltmarktes und der besetzten Gebiete, verhindert hat, populär gemacht. Die Besatzung hat die Entwicklung des Kapitalismus im Gazastreifen und im Westjordanland in Richtung einer exklusiven und untergeordneten Komplementarität gelenkt, die Produktion in einer Logik des Subunternehmertums geprägt und die israelischen Kapitalisten haben sich in den besetzten Gebieten einen Eigenbedarfsmarkt geschaffen. Die palästinensische Handelsbourgeoisie hat alle Gründe der Welt, sauer auf die Besatzung zu sein: Sie ist auf den Sektor der Zirkulation beschränkt, es ist eine Kompradorenbourgeoisie, um einen von den Trotzkisten erfundenen Begriff zu übernehmen. Bedeutet das, dass ihre Kämpfe jene der Proletarier der besetzten Gebiete sind? Man muss man daran zweifeln, ausser wenn man an die Trickle-Down-Theorie glaubt.
Was hingegen in den gesellschaftlichen Dynamiken der besetzten Territorien zentral ist, ist diese im Kontext der Osloer Abkommen gebildete „politische“ Bourgeoisie, deren Schicksal mit der Verwaltung des palästinensischen Proletariats verbunden ist. In ihrer Soziologie entstammt sie selbst in weiten Teilen diesem Proletariat. Sie hat sich auf Kosten der traditionellen herrschenden Klassen (das, was man die „grossen Familien“ nennt) durchgesetzt, sie haben ihr die Treue geschworen und erstere ist in die Welt letzterer eingedrungen. Ihre mittleren Kader (der Hamas im Gazastreifen, aber vor allem der Fatah im Westjordanland) konstituieren „auf dem Terrain“ eine flankierende Kraft dieses überschüssigen Proletariats. Sie sind die Schnittmenge der Welt des Aktivismus und jener der Rente der internationalen Kapitalgeber. Sie werden gleichzeitig stark infrage gestellt (insoweit als sie alles tun, um „die Türe hinter sich zuzumachen“) und beansprucht in Bezug auf den Zugang zu Löhnen; und sie haben eine Form des gesellschaftlichen Aufstiegs und der Klassenrache durch den politischen Kampf verkörpert.
Von überschüssigem Proletariat zu sprechen, bedeutet nicht, dass die Leute nicht arbeiten, sondern dass sie an die Ränder der kapitalistischen Ausbeutung gedrängt worden sind. Viele arbeiten auf zerstückelte Art und Weise in kleinen Strukturen, häufig im Verkauf, für miserable Löhne und ohne Vertrag (in der Grössenordnung von 10 Dollar pro Tag, während die Warenpreise an jene des israelischen Marktes gekoppelt sind).
Andere im Westjordanland arbeiten weiterhin in Israel, im Bauwesen, dem Gastgewerbe oder der Landwirtschaft, unter sehr prekären Bedingungen, entweder indem sie illegal die Grenze überqueren oder von Zwischenhändlern abhängig sind, um Zugang zu jederzeit widerrufbaren Genehmigungen zu haben (sie sind seit dem 7. Oktober ausgesetzt worden). Die meisten Arbeiter hatten einen Lohn von ungefähr 1400 Euro pro Monat, wovon exorbitante Kosten für die „Grenzüberquerung“ und häufig den Kauf von Arbeitsbewilligungen abgezogen werden müssen.
Im Westjordanland existiert auch weiterhin eine bäuerliche Wirtschaft, die häufig „nebenberuflich“ ist und unter dem Druck der Kolonialisierung steht. Die Dynamik der Proletarisierung der Bauernschaft geht seit den Anfängen des Zionismus konstant weiter, sie ist eine direkte Folge des Prozesses der Aneignung und Rentabilisierung des Bodens.
Und dann gibt es also diese Welt der politischen Rente, die aus dem von den internationalen Kapitalgebern zur Verteidigung gewisser, mit ihren Interessen verbundener Formen relativer Stabilität ausgegossenen Geld stammt. Diese Rente sorgt für den Lebensunterhalt von zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung, wobei 40% der Angestellten des öffentlichen Sektors für die Sicherheitskräfte der PA arbeiten. Sie werden gemäss der offiziellen Tabelle für „formelle“ Löhne bezahlt, ungefähr 450 € pro Monat, aber die durch die Kapitalgeber und Israel (durch das System der Rückübertragung der Abgaben) an die PA gezahlten Gelder laufen stets Gefahr, eingefroren zu werden, was zu Unterbrechungen der Lohnzahlungen führt.
Ausserdem wird ein Teil dieser politischen Rente von den politischen Anführern zu ihren Gunsten abgezweigt, zur Versorgung ihrer Klientel oder zur Investition in den informellen Sektor. Ein bedeutender Teil des überschüssigen Proletariats überlebt dank dieses abgezweigten Geldes. Es ist eine gesellschaftlich unruhige Bevölkerung, die in den 1970er-1980er Jahren massiv in die Lohnarbeit in Israel integriert worden und während den beiden Intifadas stark mobilisiert war. Sie ist in den Flüchtlingslagern konzentriert, sie sind historisch der Nährboden der palästinensischen „gefährlichen Klassen“ und bleiben das bis heute. Im Gazastreifen wie im Westjordanland, von Jabalia bis Jenin, stehen diese „Vorstädte in den Vorstädten“ konstant unter dem Feuer der israelischen Armee.
Die Volatilität der gesellschaftlichen Struktur in den besetzten Gebieten ist also beträchtlich. Die politische Bourgeoisie und besonders ihre Anführer laufen stets Gefahr, den Rückwärtsgang einlegen zu müssen, d.h. von Israel vom Status des Kollaborateurs auf jenen des Widerstandskämpfers zurückgestuft und somit eingesperrt zu werden.
Und im Gazastreifen?
Während der Machtperiode der Hamas (seit 2007) sind die Zentralität der politischen Rente und eine Bourgeoisie, die hauptsächlich eine in den politischen Betrieb integrierte „Kompradorenbourgeoisie“ ist, unverändert geblieben, aber in einem Kontext der Blockade und somit noch geringeren Investitionen und einer immer stärkeren Volatilität. Die Renten stammten aus der Kontrolle über die Warenzirkulation und der aus Katar und Iran kommenden Pfründen. Jene Unternehmer, welche während den letzten Jahren Vermögen angehäuft haben (z.B. in der Tunnelwirtschaft), taten dies in Verbindung mit dem Sicherheitsapparat der Hamas.
Kann man in der gegenwärtigen Situation im Gazastreifen von einer Klassenstruktur sprechen? Es gibt immer, sogar in dieser Art von Situation, in welcher jeder Tag der letzte sein könnte, Gruppen von Individuen (verbunden mit der Hamas, den militärischen Strukturen der Clans oder als Gangs organisiert), die es vermögen, Geschäfte zu machen. Doch das ergibt keine Klassenstruktur – oder aber es ist eine Klassenstruktur in der Art eines Konzentrationslagers, die nicht Teil einer mittel- oder langfristigen gesellschaftlichen Reproduktion ist.
Die Fortsetzung in der Nummer 346 im Januar.
Interview durchgeführt von zyg im Oktober/November 2024.
Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net