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Palästina: Volk oder Klasse? Interview mit Emilio Minassian

Mittwoch 29. Januar 2025

Erster Teil

Zweiter Teil

Erster Teil

Als Fortsetzung und Vertiefung der Debatte, zu der es mit Emilio Minassian am libertären Treffen in Quercy diesen Sommer kam, und zur Verteidigung einer klassenspezifischen Lesart und Perspektive auf die Situation in Palästina-Israel haben wir ihm einige Fragen gestellt. In einem ersten Teil werden wir über die Integration der Region Israel/Palästina in den globalen Kapitalismus und die Klassenzusammensetzung in Palästina sprechen. In der nächsten Nummer werden wir die Auswirkungen auf die proletarischen Kämpfe und den nationalen Befreiungskampf erörtern.

Als Einleitung zu den Äusserungen

Zuerst einige Worte dazu, „woher ich spreche“, wie man sagt. Ich bin nicht Palästinenser, ich verbrachte regelmässig einige Monate im Westjordanland und ging den üblichen Beschäftigungen jener linken Westler nach, welche in die besetzten Gebiete reisen: solidarische Aktivitäten, kurze Dokumentarfilme, folgenlose akademische Forschungsarbeit. Es lässt sich wahrscheinlich weitgehend als eine Form aktivistischen Tourismus beschreiben, in einer autonom-marxistischen Variante.

Ich versuchte ziemlich schnell jenen gesellschaftlichen Rahmen zu umgehen, in welchen sich der propalästinensische Aktivismus hineinprojiziert, nämlich nicht mit „Profis“ der Unterdrückungserzählung während abgesteckten Treffen herumzuhängen. Das habe ich mehr oder weniger geschafft, je nach Perioden, Zusammenhängen und aufgewendeter Energie, und ich war eher an der Seite der Arbeitslosen und Schurken der Flüchtlingslager als an jener der Arbeiter (geschweige denn Arbeiterinnen): Die Arbeitslosen haben freie Zeit und die Schurken haben häufig Lust, ihre Geschichten des Kampfes gegen die (israelischen, aber auch palästinensischen) bewaffneten Kräfte, der Einsperrung und der (sowohl in den israelischen als auch palästinensischen Kerkern praktizierten) Folter zu teilen.

Seinen Mund aufzumachen, um zu sagen, dass „es in Palästina gesellschaftliche Klassen gibt“, mag in einem Kontext, wo die Bevölkerungen im Gazastreifen im Bombenhagel ertränkt werden, schräg erscheinen. Wahrscheinlich würde ich es nicht oder auf andere Art und Weise tun, wenn ich mich im Gazastreifen und nicht im Westjordanland herumgetrieben hätte. Ich mache es nicht, um das Massaker auf Distanz zu halten, sondern um die Idee einer radikalen Andersartigkeit, einer Äusserlichkeit im Verhältnis zu dem zu bekämpfen, was hinsichtlich der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse geschieht, dort genau wie hier.

Du verteidigst die Idee, dass Israel-Palästina im globalen kapitalistischen Raum und in jenem der Region eine Einheit darstellt. Kannst du uns erklären, warum?

Ursprünglich konzipiert das zionistische Projekt eine getrennte jüdische Gesellschaft in Palästina. Dieses Projekt führt zur ethnischen Säuberung 1947-1948, die, obwohl sie nicht vollständig ist, einen „jüdischen“ Raum erschafft, der damals im Wesentlichen europäischen Ursprungs ist. 1967, mit der Besetzung des Gazastreifens und des Westjordanlands, zuvor von Ägypten für ersteren und Jordanien für letzteres annektiert, ist die Bevölkerung des von Israel verwalteten Territoriums nicht mehr hauptsächlich jüdisch. Zur gleichen Zeit entsteht ein eigentlich palästinensischer – und nicht mehr „arabischer“ – Nationalismus. Man konnte damals den Eindruck gewinnen, zwei „Nationen“ würden sich auf dem gleichen Territorium entgegenstehen. Doch aus diesem palästinensischen Nationalismus ist bis heute keine andere getrennte staatliche Entität entstanden, als jene auf der Grundlage der Verwaltung von „Kesseln“, im Gazastreifen und im Westjordanland. Das von Israel kontrollierte Territorium besteht nicht einerseits aus jüdischen, andererseits aus palästinensischen Territorien. Es gibt zahlreiche mehrheitlich palästinensische Gebiete in den Territorien des 1948 gegründeten Staates und eine bedeutende Siedlerbevölkerung im Westjordanland. Dieses Territorium ist ein Puzzle, in welchem die nationalen Unterscheidungen, vorausgesetzt, dass man von subjektiven Zugehörigkeiten absieht, selbst in zahlreiche Untergliederungen unterteilt sind, diese sind ihrer Ethnisierung halber (auch auf „jüdischer“ Seite) heutzutage von gesellschaftlicher Natur und alle Teil der israelischen Wirtschaft.

Von „der Einheit des Raumes“ zwischen Israel und Palästina auszugehen, ist also eine Art und Weise, eine Analyse der palästinensischen Frage als eine eines durch ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl und eine einzige und gemeinsame Enteignung vereinten „Volkes ohne Staat“ zu überwinden. Diese Lesart tendiert dazu, gesellschaftlich hervorgebrachte nationale Kategorien zu essentialisieren und zudem die Gewalt des israelischen Staates in einer Kontinuität seit 1948 zu verankern, was die Tatsache nicht berücksichtigt, dass sie Teil globaler Dynamiken ist.

Was sich seit einem Jahr abspielt, ist weder ein Krieg, an dem sich zwei sich gegenüberstehende nationale Räume beteiligen, noch eine Eroberungsunternehmung, welche die Beschlagnahme von Rohstoffen und Märkten zum Ziel hat. Es ist nicht das „palästinensische Volk“, das man im Rahmen eines Kampfes um die Existenz, in dem sich zwei Nationen gegenüberstehen, im Bombenhagel ertränkt. Der Gazastreifen ist keine ausserhalb von Israel stehende gesellschaftliche Entität. Er ist seit etwa 60 Jahren in den israelischen Kapitalismus, den israelischen Markt integriert. Die dort lebenden Palästinenser sind in ihrer überwiegenden Mehrheit Proletarier ohne eigene Ressourcen, die mit israelischem Geld gekaufte israelische Waren konsumieren, aber keine Arbeiter, deren Arbeit ausgebeutet wird. Es sind Überschüssige, die das israelische Kapital in den 1990er Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen und, gemäss einer Logik der Animalisierung, die Teil der kolonialen Geschichte ist, in ein immenses, einige Dutzend Kilometer von Tel Aviv entferntes „Reservat“ gepfercht hat.

Kannst du etwas näher auf die Geschichte der Integration dieses Raumes (und seiner Arbeitskraft) in den kapitalistischen Markt eingehen?

Vom Standpunkt des Marktes aus betrachtet, ist der „palästinensische“ Raum durch die Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg konstituiert worden. Am Anfang steht eine Situation, in welcher feudale Strukturen und eine sich andeutende Handelsbourgeoisie vorherrschen. Das Mandat und der Zionismus markieren den eigentlichen Beginn der Proletarisierung der arabisch-palästinensischen Bauernschaft, doch der wirkliche Auslöser ist 1948 mit der Nakba. Palästinensische Bourgeois und Feudalherren verlassen das unter israelische Kontrolle gekommene Territorium mit ihren beweglichen Gütern unter den Armen; die palästinensischen Bauern, mehrheitlich in Halbpacht, werden von ihrem Land verjagt und in Lagern zusammengepfercht.

Man kann den israelischen Kolonialismus in drei Zyklen unterteilen. In einer ersten Phase (1948-1967) ist es eine Typologie, die gegenüber der palästinensischen Bauernschaft der Siedlerkolonie ähnelt: ethnische Säuberung, Landraub, „jüdisches“ Kapital und „jüdische“ Arbeit. Als logische Folge davon wurde, wie ich es vorher gesagt habe, ein jüdisches Proletariat aus der arabischen Welt importiert, dieses war seinerseits ethnisiert und in ein koloniales Verhältnis der Animalisierung und Ausbeutung eingebettet. Die Kapitalakkumulation geschah während dieser Periode unter der Knute eines allmächtigen Planerstaates, kontrolliert von den aschkenasischen und sozialistischen Eliten mit einer in den Staat integrierten Gewerkschaftsbewegung.

In einer zweiten Phase, zwischen 1967 und ungefähr 1990, mit der Eroberung des Gazastreifens und des Westjordanlands, gehen wir in eine koloniale Situation des Typs „Ausbeutung der eingeborenen Arbeitskraft“ über. Der israelische Kapitalismus tritt in eine intensive Phase der Integration ins internationale Kapital ein, unter anderem via die Rüstungsindustrie. Während ungefähr 20 Jahren erlebt das Proletariat des Gazastreifens und des Westjordanlands seinerseits eine massive Integration in die Lohnarbeit in die am wenigsten qualifizierten Sektoren: Bauwesen, Landwirtschaft usw.

Die Osloer Abkommen läuten eine neue Phase ein, jene eines kolonialen Verhältnisses, das rund um die Figur des palästinensischen Überschüssigen und der Fremdvergabe seiner Verwaltung strukturiert ist. Israel behält die Kontrolle über das Territorium, setzt seine Offensive der Zerstörung der Bauernschaft fort und beauftragt eine aus dem Befreiungskampf entstandene nationale Struktur mit der Verwaltung der palästinensischen Proletarier, die in geschlossene urbane Zonen eingepfercht worden sind.

In diesem Kontext kommt es zu einer Integration der Handelsbourgeoisien, die der Nakba entkommen waren – jene, welche in Hebron und Nablus verankert und Teil des von Jordanien zwischen 1948 und 1967 annektierten Territoriums waren –, in diese aus der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) entstandene Führungsschicht. Integriert in den Sicherheitsapparat der PA (Palästinensische Autonomiebehörde), hat sie einen doppelten Ursprung: Es gibt die „äusseren“ Anführer, die 1994 und 1996 mit Arafat zurückkehrten, und die „inneren“, hervorgegangen aus der Ersten Intifada und den israelischen Gefängnissen. Es ist eine bunt gemischte, in konkurrierende Fraktionen gespaltene Klasse. Sie profitiert von einer internationalen Sicherheitsrente, doch sie kontrolliert auch ganze Sektoren der Wirtschaft der besetzten Gebiete, im Bauwesen, den Infrastrukturen, der Telekommunikation und natürlich dem Import/Export mit Israel. All diese Sektoren sind mit dem israelischen Markt und israelischen Investitionen verbunden.

Markiert der Gazakrieg nicht den Eintritt in eine neue Phase?

Davon kann man ausgehen. Die Phase nach Oslo war geprägt von der Inflation der Kontrolltechniken, die von Israel gegen dieses im Wesentlichen unproduktiv gewordene Proletariat aufgeboten wurde: Aufteilung des Territoriums in Mikroregionen, Einführung eines verrückten Genehmigungssystems zur Bewilligung von Reisen, Arbeit und Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, generalisierte Fichierung, Überwachung der sozialen Netzwerke, digitales System der Gesichtserkennung, aber auch massive Willkür (hinsichtlich der Verhaftungen, der Öffnung oder Schliessung von Durchgängen, dem Zugang zu Genehmigungen), um die Verhaltensweisen zu „testen“. Diese Technologien und dieses Know-how wurden massiv exportiert und sind somit wertproduzierend.

Es scheint mir, dass wir seit letztem Jahr in die militärische Dimension dieser experimentellen Logik eingetreten sind. Die gegenwärtige Praxis der Zerstörung und der Massaker ist nicht nur grenzenlos: Sie ist akribisch, überlegt, kontrolliert und gleichzeitig hat man Mühe, zu erkennen, welcher „Sieg“ angestrebt wird. Meine Hypothese ist, dass die Massaker im Gazastreifen eine experimentelle Sequenz darstellen, die für den globalen Kapitalismus nützlich ist – genau wie es auf andere Art und Weise mit der ein starkes Ausmass an „Biomacht“ implizierenden Logik des „Stop and Go“ der Weltwirtschaft während der Covid-Pandemie der Fall war. Aber Achtung, es geht nicht darum, hier auf postmodern zu machen und zu behaupten, irgendeine Herrschaftslogik sei von den kapitalistischen Verhältnissen autonom geworden. Die überschüssigen Proletarier aus dem Gazastreifen haben keine produktive Funktion mehr für das israelische Kapital, doch der führende Sektor der Kontrolltechnologien mit hoher Wertschöpfung „braucht“ sie als Versuchskaninchen, um daraufhin seine internationale Zirkulation zu garantieren. So testet man die Bombardierungen und das Profiling von Individuen mit künstlicher Intelligenz und verwaltet das Verhältnis zur Hungersnot mit einer Akribie, die zum Ziel hat, stets am Rande der Mangelernährung zu bleiben (bis heute), man tut das Gleiche mit den Epidemien, usw.

Diese Logik der endlosen militärischen Aggression gegen die überschüssigen Proletarier im Gazastreifen wird eifrig von den westlichen Mächten unterstützt: Alle politischen Gestikulationen bezüglich einer Mässigung sind blosses Theater (es reicht, die Frage der Waffenlieferungen mit der Ukraine zu vergleichen, um festzustellen, dass ihre Verbündeten der israelischen Kriegsmaschinerie keine Grenze setzen).

Du sprichst von einer Bourgeoisie und einem Proletariat in Palästina. Könntest du uns die Klassenzusammensetzung im Gazastreifen und im Westjordanland skizzieren und die Bedingungen erklären, unter welchen der Kampf zwischen den Klassen stattfindet? Determiniert der Status gegenüber Israel diese Klassenzugehörigkeit?

Die palästinensische Bourgeoisie bildet nicht eine fest konstituierte nationale Klasse: Sie bleibt in der Tat abhängig von ihrer Unterordnung unter das israelische Kapital und den israelischen Staat. Die palästinensischen Kapitalisten (wenn man darunter „ursprünglich aus Palästina kommend“ versteht) bevorzugen spontan, falls sie frei investieren können, ihre Kapitale ausserhalb des palästinensischen Territoriums – und somit ausserhalb des nationalen Rahmens Israels – zu realisieren. Es ist unbestreitbar, dass die israelische Besatzung die Entwicklung einer territorialisierten palästinensischen kapitalistischen Klasse erzwungen hat. Eine amerikanische Forscherin (Sara Roy) hat den Begriff „De-Entwicklung“ zur Bezeichnung der Art und Weise, wie Israel die Schaffung einer „freien“ Marktwirtschaft, d.h. als Teil des Weltmarktes und der besetzten Gebiete, verhindert hat, populär gemacht. Die Besatzung hat die Entwicklung des Kapitalismus im Gazastreifen und im Westjordanland in Richtung einer exklusiven und untergeordneten Komplementarität gelenkt, die Produktion in einer Logik des Subunternehmertums geprägt und die israelischen Kapitalisten haben sich in den besetzten Gebieten einen Eigenbedarfsmarkt geschaffen. Die palästinensische Handelsbourgeoisie hat alle Gründe der Welt, sauer auf die Besatzung zu sein: Sie ist auf den Sektor der Zirkulation beschränkt, es ist eine Kompradorenbourgeoisie, um einen von den Trotzkisten erfundenen Begriff zu übernehmen. Bedeutet das, dass ihre Kämpfe jene der Proletarier der besetzten Gebiete sind? Man muss man daran zweifeln, ausser wenn man an die Trickle-Down-Theorie glaubt.

Was hingegen in den gesellschaftlichen Dynamiken der besetzten Territorien zentral ist, ist diese im Kontext der Osloer Abkommen gebildete „politische“ Bourgeoisie, deren Schicksal mit der Verwaltung des palästinensischen Proletariats verbunden ist. In ihrer Soziologie entstammt sie selbst in weiten Teilen diesem Proletariat. Sie hat sich auf Kosten der traditionellen herrschenden Klassen (das, was man die „grossen Familien“ nennt) durchgesetzt, sie haben ihr die Treue geschworen und erstere ist in die Welt letzterer eingedrungen. Ihre mittleren Kader (der Hamas im Gazastreifen, aber vor allem der Fatah im Westjordanland) konstituieren „auf dem Terrain“ eine flankierende Kraft dieses überschüssigen Proletariats. Sie sind die Schnittmenge der Welt des Aktivismus und jener der Rente der internationalen Kapitalgeber. Sie werden gleichzeitig stark infrage gestellt (insoweit als sie alles tun, um „die Türe hinter sich zuzumachen“) und beansprucht in Bezug auf den Zugang zu Löhnen; und sie haben eine Form des gesellschaftlichen Aufstiegs und der Klassenrache durch den politischen Kampf verkörpert.

Von überschüssigem Proletariat zu sprechen, bedeutet nicht, dass die Leute nicht arbeiten, sondern dass sie an die Ränder der kapitalistischen Ausbeutung gedrängt worden sind. Viele arbeiten auf zerstückelte Art und Weise in kleinen Strukturen, häufig im Verkauf, für miserable Löhne und ohne Vertrag (in der Grössenordnung von 10 Dollar pro Tag, während die Warenpreise an jene des israelischen Marktes gekoppelt sind).

Andere im Westjordanland arbeiten weiterhin in Israel, im Bauwesen, dem Gastgewerbe oder der Landwirtschaft, unter sehr prekären Bedingungen, entweder indem sie illegal die Grenze überqueren oder von Zwischenhändlern abhängig sind, um Zugang zu jederzeit widerrufbaren Genehmigungen zu haben (sie sind seit dem 7. Oktober ausgesetzt worden). Die meisten Arbeiter hatten einen Lohn von ungefähr 1400 Euro pro Monat, wovon exorbitante Kosten für die „Grenzüberquerung“ und häufig den Kauf von Arbeitsbewilligungen abgezogen werden müssen.

Im Westjordanland existiert auch weiterhin eine bäuerliche Wirtschaft, die häufig „nebenberuflich“ ist und unter dem Druck der Kolonialisierung steht. Die Dynamik der Proletarisierung der Bauernschaft geht seit den Anfängen des Zionismus konstant weiter, sie ist eine direkte Folge des Prozesses der Aneignung und Rentabilisierung des Bodens.

Und dann gibt es also diese Welt der politischen Rente, die aus dem von den internationalen Kapitalgebern zur Verteidigung gewisser, mit ihren Interessen verbundener Formen relativer Stabilität ausgegossenen Geld stammt. Diese Rente sorgt für den Lebensunterhalt von zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung, wobei 40% der Angestellten des öffentlichen Sektors für die Sicherheitskräfte der PA arbeiten. Sie werden gemäss der offiziellen Tabelle für „formelle“ Löhne bezahlt, ungefähr 450 € pro Monat, aber die durch die Kapitalgeber und Israel (durch das System der Rückübertragung der Abgaben) an die PA gezahlten Gelder laufen stets Gefahr, eingefroren zu werden, was zu Unterbrechungen der Lohnzahlungen führt.

Ausserdem wird ein Teil dieser politischen Rente von den politischen Anführern zu ihren Gunsten abgezweigt, zur Versorgung ihrer Klientel oder zur Investition in den informellen Sektor. Ein bedeutender Teil des überschüssigen Proletariats überlebt dank dieses abgezweigten Geldes. Es ist eine gesellschaftlich unruhige Bevölkerung, die in den 1970er-1980er Jahren massiv in die Lohnarbeit in Israel integriert worden und während den beiden Intifadas stark mobilisiert war. Sie ist in den Flüchtlingslagern konzentriert, sie sind historisch der Nährboden der palästinensischen „gefährlichen Klassen“ und bleiben das bis heute. Im Gazastreifen wie im Westjordanland, von Jabalia bis Jenin, stehen diese „Vorstädte in den Vorstädten“ konstant unter dem Feuer der israelischen Armee.

Die Volatilität der gesellschaftlichen Struktur in den besetzten Gebieten ist also beträchtlich. Die politische Bourgeoisie und besonders ihre Anführer laufen stets Gefahr, den Rückwärtsgang einlegen zu müssen, d.h. von Israel vom Status des Kollaborateurs auf jenen des Widerstandskämpfers zurückgestuft und somit eingesperrt zu werden.

Und im Gazastreifen?

Während der Machtperiode der Hamas (seit 2007) sind die Zentralität der politischen Rente und eine Bourgeoisie, die hauptsächlich eine in den politischen Betrieb integrierte „Kompradorenbourgeoisie“ ist, unverändert geblieben, aber in einem Kontext der Blockade und somit noch geringeren Investitionen und einer immer stärkeren Volatilität. Die Renten stammten aus der Kontrolle über die Warenzirkulation und der aus Katar und Iran kommenden Pfründen. Jene Unternehmer, welche während den letzten Jahren Vermögen angehäuft haben (z.B. in der Tunnelwirtschaft), taten dies in Verbindung mit dem Sicherheitsapparat der Hamas.

Kann man in der gegenwärtigen Situation im Gazastreifen von einer Klassenstruktur sprechen? Es gibt immer, sogar in dieser Art von Situation, in welcher jeder Tag der letzte sein könnte, Gruppen von Individuen (verbunden mit der Hamas, den militärischen Strukturen der Clans oder als Gangs organisiert), die es vermögen, Geschäfte zu machen. Doch das ergibt keine Klassenstruktur – oder aber es ist eine Klassenstruktur in der Art eines Konzentrationslagers, die nicht Teil einer mittel- oder langfristigen gesellschaftlichen Reproduktion ist.

Die Fortsetzung in der Nummer 346 im Januar.

Interview durchgeführt von zyg im Oktober/November 2024.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle

Zweiter Teil

Als Fortsetzung und Vertiefung der Debatte, zu der es mit Emilio Minassian am libertären Treffen in Quercy diesen Sommer kam, und zur Verteidigung einer klassenspezifischen Lesart und Perspektive auf die Situation in Palästina-Israel haben wir ihm einige Fragen gestellt. Im ersten Teil haben wir über die Integration der Region Israel/Palästina in den globalen Kapitalismus und die Klassenzusammensetzung in Palästina gesprochen. In dieser Nummer möchten wir über die Auswirkungen dieser Klassenzusammensetzung auf die proletarischen Kämpfe und den nationalen Befreiungskampf sprechen.

Kann der nationale Befreiungskampf, so klassenübergreifend er auch sein mag, nicht die Schraube der Klassenherrschaft für die palästinensischen Proletarier etwas lockern? Denn es ist denkbar, dass die israelische Kolonialisierung die palästinensische Bourgeoisie vor einer Ausweitung der Klassenwidersprüche schützt.

Wie steht es um den nationalen Befreiungskampf in Palästina heutzutage? Existiert er überhaupt noch? Der nationale Befreiungskampf ist freilich eine Perspektive (ein des Kolonialherren entledigter Nationalstaat) und man kann der Ansicht sein, dass sie in Palästina gültig bleibt, solange der Kolonialismus fortbesteht. Aber wie steht es um den Mobilisierungsprozess? Historisch geschah er immer rund um die politischen Formationen, wobei er gleichzeitig Auswirkungen auf die Klassenstruktur hatte. In Palästina wurde der nationale Befreiungskampf von den Parteien der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) verkörpert, sie waren die Akteure der sogenannten „palästinensischen Revolution“ nach dem Krieg von 1967: Rund um diese Parteien (Fatah, PFLP – Volksfront zur Befreiung Palästinas – und all ihre Abspaltungen) verdichtete sich eine soziale Bewegung, welche die traditionellen, von der feudalen Welt geerbten Hierarchien umgestürzt hat. Die „palästinensische Revolution“ hat eine dem intellektuellen Kleinbürgertum im Exil entstammende Führungsschicht hervorgebracht, die mithilfe der Zirkulation der politischen Renten das Proletariat der Flüchtlingslager in Jordanien, im Libanon und in Syrien (und manchmal nicht-palästinensische Proletarier aus diesen Ländern) in Kampforganisationen integriert hat. Die traditionelle Bourgeoisie ist zwar nicht gestürzt, aber zumindest ins Wanken gebracht worden: Sie ist dazu gedrängt worden, mit diesen Organisationen zu verhandeln, um vor jenen bewaffneten Proletariern beschützt zu werden, welche ihre Farben trugen. Es ist der klassische Motor der nationalen Befreiungsbewegungen: Die Absorbierung einer proletarischen oder bäuerlichen sozialen Bewegung, oder, in den meisten Fällen – und das gilt für Palästina –, einer Bewegung, die Ausdruck der sich aus den kolonialen Verhältnissen ergebenden Proletarisierung der bäuerlichen Massen ist, durch einen politischen Rahmen, der die Verwandlung in einen Staatsapparat zum Ziel hat. Der Prozess hat sich danach, in den 1980er Jahren, auf den Gazastreifen und das Westjordanland ausgeweitet, jedoch ohne die militärische Dimension: Die Erste Intifada beginnt als Revolte der vom israelischen Kapital ausgebeuteten Proletarier der besetzten Gebiete (weitgehend jene, welche in den Flüchtlingslagern leben); erst später wird sie von der PLO „vereinnahmt“, um aus ihr eine nationale politische Bewegung zu machen.

Was geschah danach? Im „klassischen“ Modell kommt es, wenn die politische Führung die Staatsmacht erobert, zur Trennung der Interessen zwischen der sozialen Bewegung und der politischen Formation, die Prolos werden von einem vermeintlich im Dienste der Massen stehenden Staat zurück zur Arbeit geschickt. Was in Palästina speziell ist, ist die Tatsache, dass diese Trennung geschehen ist, ohne dass die Unabhängigkeit erlangt worden wäre: Am Ende der Periode zwischen den Osloer Abkommen und der Zweiten Intifada (1993-2004) hat die nationale Führungsschicht den Kampf für die Unabhängigkeit aufgegeben, um sich mit den von Israel gewährten Renten und Märkten zufriedenzugeben. Seither trägt die Unterdrückung der Proletarier immer noch die Züge der israelischen Besatzung und Kolonialisierung, aber es fehlt dabei eine von den aus dem nationalen Befreiungskampf entstandenen politischen Organisationen vorgelebte Kampfperspektive, denn die Anführer derselben sind mittlerweile als Subunternehmer in diese Konfiguration integriert. Es ist die berühmte „doppelte Besatzung“, die in den Diskursen im Westjordanland allgegenwärtig ist.

Hat die Hamas diese Aufgabe nicht übernommen?

Hinsichtlich gewisser Aspekte folgt die Hamas dem Weg der PLO. Die gesellschaftliche Zusammensetzung ihrer Führungsschicht ist ähnlich: aus den Universitäten stammende Mittelklassen ohne eigenes Kapital, die einen Spagat zwischen der proletarischen Basis und den Interessen der Handelsbourgeoisie machen. Doch die Hamas hat sich im Gegensatz zur PLO nicht auf eine soziale Bewegung gestützt. Sie hat eine Art Gegengesellschaft aufgebaut, die fromm und hierarchisch ist und die soziale Ordnung respektiert. Die Proletarier sind in Form der Einreihung integriert worden, sie hat nie versucht, ihre autonome Aktivität im Rahmen ihrer Verhandlungen mit der Bourgeoisie zu nutzen.

Diesbezüglich muss man meiner Meinung nach zumindest methodisch den Begriff des Kampfes, der eine Form der Autonomie des Handelns und materielle Streitgegenstände bedingt und gesellschaftliche Widersprüche ins Spiel bringt, von jenem des „Widerstands“, wie er von hierarchisierten militärischen Organisationen wie den Al-Qassam-Brigaden im Gazastreifen benutzt wird, unterscheiden. Die Hamas kann legitimerweise von sich behaupten, Teil des Widerstands zu sein (wie die Hisbollah oder andere politisch-militärische Gruppen der Region), aber ihr Modell des Widerstands ist zentralisiert, hierarchisch, militärisch, es trennt die Bevölkerung von „ihren“ Truppen und letztere können jederzeit eingesetzt werden, um Kämpfe niederzuschlagen.

Mitte der 2000er Jahre drängen interne Kräfte die Hamas dazu, sich durch die Teilnahme an Wahlen in die Rahmenbedingungen der Autonomieabkommen zu integrieren, d.h. sich im Gefolge der Fatah als Subunternehmerin Israels in der Verwaltung der Proletarier in den besetzten Gebieten zu positionieren. Genau dies tut sie letztendlich, indem sie 2007 im Gazastreifen die Macht ergreift. Da sie es militärisch und ohne mit dem Besatzer zu verhandeln getan hat, konnte sie den unbeugsamen Schein wahren, ungeachtet dessen ist sie objektiv zu einer lokalen Subunternehmerin in der Verwaltung der überschüssigen Proletarier geworden.

Während 16 Jahren hat die Hamas den Gazastreifen und die Beziehungen zu Israel (mithilfe von Verhandlungen und Raketen) verwaltet, die Kämpfe niedergeschlagen und einer Unternehmerklasse erlaubt, sich unter ihren Fittichen zu bereichern. Bis zu jenem 7. Oktober 2023, als sie plötzlich aus dieser Rolle der Subunternehmerin austritt, um, so denke ich, erneut den Schwerpunkt auf ihre Dimension der politisch-militärischen Organisation des Typs Hisbollah zu legen. Indem sie das getan hat, hat sie die Klasse der Unternehmer im Gazastreifen geopfert, die sich unter ihren Fittichen entwickelt hatte. Man kann davon ausgehen, dass diese Umorientierung nicht ohne innere Reibereien geschehen konnte, dass sie gleichbedeutend ist mit dem Aufbruch eines alten internen Widerspruchs zwischen ihrem politisch-militärischen Arm mit einer gewichtigen proletarischen Klientel und jener Fraktion, welche Teil der palästinensischen Handelsbourgeoisie ist.

Die britische Herrschaft, dann die zionistische Kolonialisierung, der enorme Flüchtlingsanteil, die tägliche Ausübung kolonialer Gewalt usw. haben dazu beigetragen, materiell eine gemeinsame Identifikation der Palästinenser und ihres Widerstands zu konstruieren, die sich in der Form des Begriffs „Volk“ ausdrückt. Ist diese Konstruktion nur der Widerschein des Diskurses der palästinensischen Eliten?

Diese Identifikation existiert offensichtlich, doch man muss sich fragen, was sich dahinter abspielt. Ich versuche nicht um jeden Preis, zu sagen, dass „die Völker nicht existieren“, dass „sie bloss eine Mystifikation der herrschenden Klasse sind, die zum Ziel hat, ihre Klassenherrschaft zu kaschieren“; und noch weniger, dass, „wenn die Maske fallen würde, sich die Proletarier ihrer Klasseninteressen bewusst würden“.

Die Idee eines palästinensischen Volkes ist nicht auf die palästinensischen Eliten beschränkt, sie wird manchmal sogar gegen letztere benutzt. Die Frage ist: Welche Kämpfe spielen sich innerhalb der Kategorie „Volk“ offen oder diskret zwischen den verschiedenen sie benutzenden Klassensegmenten ab? Nur weil man sich mit einem Volk identifiziert, bedeutet das nicht, dass man nicht ausgehend von seiner gesellschaftlichen Stellung kämpft.

Damit kommen wir auf das zurück, was ich über den nationalen Befreiungskampf und den Interklassismus gesagt habe. In den 1960er Jahren bis in die 1990er Jahre brauchte die PLO die proletarischen Kämpfe, um über ihren Anteil am Kuchen gegenüber Israel zu verhandeln, während die Proletarier ihre „nationale“ Führung als eine Art der Legitimation ihrer Kämpfe gegen die Eliten benutzten. In den besetzten Gebieten stellte die Erste Intifada den Höhepunkt dieser doppelten Logik der Absorption der gesellschaftlichen Kämpfe durch die politischen Führungen und Benutzung des nationalen Kampfes durch die gesellschaftliche Bewegung dar. Aber die proletarischen Kämpfe und jene der nationalen Führungen, die bis anhin den Weg (auf konfliktreiche Art und Weise) gemeinsam gingen, taten dies ab den Jahren zwischen 2002 und 2005 nicht mehr. Im Kontext des Scheiterns der Zweiten Intifada (die in den ersten Monaten der gleichen klassenübergreifenden Logik folgte und aufständische oder bewaffnete Proletarier mit den politischen Anführern verband) sind die nationalen Führungen (im Westjordanland und sogar im Gazastreifen) in eine Logik der Niederschlagung der Kämpfe eingetreten, auch jener, welche die Sprache der nationalen Befreiung mobilisieren.

Auch wenn das der Intuition scheinbar widersprechen mag, die proletarischen Kämpfe in den besetzten Gebieten sind seit dem Scheitern der Zweiten Intifada in erster Linie gegen die nationale palästinensische Führung gerichtet. Weil sie es mit ihr zu tun haben, sie eine Pufferrolle spielen, hat sich Israel aus der Verantwortung für die Reproduktion der Bevölkerungen zurückgezogen, sie hat sie der palästinensischen Führung übergeben. Israel interveniert in Agglomerationen des Westjordanlands gemäss einer Logik des „Überfalls“ – und im Gazastreifen des Massakers.

Was ist mit den Kämpfen seit 20 Jahren ausserhalb dieser Parteien oder gegen sie?

Um von jenen Dingen zu sprechen, welche ich am besten kenne (ich betrat den Gazastreifen nur ein einziges Mal 2002), es gab 2015-2016 im Norden des Westjordanlands einen schwelenden Aufstand der Proletarier der Flüchtlingslager gegen die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Man sprach damals von einer „internen“ Intifada, deren Epizentrum das Balata-Lager in einer Vorstadt von Nablus war. Diese soziale Bewegung hat die palästinensische Polizei zurückgedrängt, sie hat Raum für die Jungen gelassen, um erneut bewaffnete Gruppen auf ihren Grundlagen, ausserhalb der Hierarchien der Parteien zu formieren und sich gesellschaftlich gegen die mit der PA verbundenen Standespersonen in Nablus und Jenin durchzusetzen. Die Konfrontationen im Frühling 2021 (Krawalle in Jerusalem und in den palästinensischen Städten innerhalb der israelischen Territorien „von 1948“, politisch-militärische Offensive der Hamas, Wahl-Annullierung durch die PA) haben die Sache noch schlimmer gemacht: Die PA ist geschwächt daraus hervorgegangen, was sie in ihren Bestrebungen hin zu einem autoritären Regime etwas beruhigt hat.

Was ich am Krawallzyklus von 2015-2016 interessant fand, war die Tatsache, dass der Diskurs vieler Leute darauf hinauslief (was nur scheinbar ein Widerspruch ist), dass die palästinensische Verwaltung zugleich eine physische Konfrontation mit der Besatzung und den Zugang zur israelischen Wirtschaft als Arbeiter verhindere. Es gab eine Nostalgie für eine Epoche, während welcher „man am Tag für die Israelis arbeitete und in der Nacht Molotowcocktails auf sie warf“…

Im selben Jahr kam es zu einem grossen Streik bei den von der PA angestellten Lehrkräften, sie hatte es geschafft, ihn durch den Einsatz von Einschüchterung, Repression und Erpressung gemäss dem Modell der „arabischen Regime“ der Region zu neutralisieren, doch er stellte eine Sequenz des sozialen Protests dar, welche die Grundlagen ihrer politischen Kontrolle erschüttert hatte.

Wieso schweigt unser politisches Lager zu diesen Kämpfen?

Die PA und die palästinensische Bourgeoisie sind im Diskurs im Westjordanland als Quelle der Unterdrückung allgegenwärtig. Aber man muss natürlich die Situationen der Wechselwirkung berücksichtigen: Wir, die angeheiterten weissen Aktivisten in den besetzten Gebieten, werden angeeignet, um eine Funktion zu erfüllen: jene, zu bezeugen, um der israelischen Propagandamaschine entgegenzuwirken. Diese Aneignung ist im Wesentlichen das Werk der Mittelklassen, die auf die eine oder andere Art und Weise Zugang zu (materiellen oder symbolischen) aus dem Westen kommenden Kapitalen haben, und es ist eine Tatsache, dass niemand Solidarität im Klassenkampf gegen die palästinensischen Ausbeuter erwartet. Jene Leute, welche Teil dieser (vom nationalen Standpunkt aus) „internen“ Ausbeutungsverhältnisse sind, werden mit dir darüber sprechen, die ganze Zeit sogar, doch ihr Reden darüber wird nicht die Dimension einer politischen Botschaft annehmen – ausser während extrem angespannten Momenten, wie es im Norden des Westjordanlands 2015-2016 der Fall war.

Was die palästinensischen Proletarier als Proletarier erleben, erreicht unsere Ohren kaum, was alles andere als überraschend ist: Diese Erfahrung ist nicht Teil der „nationalen Sache“, welche die politischen Führungskräfte ihren Kontakten im Ausland vermitteln.

Welche gemeinsamen Perspektiven können die Proletarier dieses Gebiets haben?

Israel repräsentiert das Bild einer albtraumhaften Zukunft: jenes eines Staates, der dem zentralen Block der kapitalistischen Länder angehört und auf seinem Territorium die globale Zoneneinteilung, wie man sie in der weltweiten Arbeitsteilung beobachten kann, reproduziert hat. Diese gesellschaftliche Zoneneinteilung spielt sich quasi in einem Ballungsraum ab: Die Distanz zwischen dem Gazastreifen und Tel Aviv ist kaum grösser als jene zwischen Paris und Mantes-la-Jolie. Und sie funktioniert auf der Grundlage der Ethnizität (das ist eine Konstante in der Geschichte Israels wie in jener vieler anderer Staaten, auch ausserhalb des Kontexts des nationalen Kampfes: vor der Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens waren es die „importierten“ jüdischen Proletarier aus den arabischen Ländern, die den Preis dafür zahlten).

Doch im Verlauf der letzten 20 Jahre hat sich der Staat nicht nur als Garant der sozialen Reproduktion des von ihm beherrschten jüdischen Proletariats durchgesetzt, sondern auch seiner „physischen“ Existenz selbst, seines Überlebens. Man kann heutzutage eine Einreihung dieses „nationalen“ Proletariats hinter seinen Ausbeutern von einem nie dagewesenen Ausmass in der Geschichte gegenüber den in einem konstant bombardierten Konzentrationslager eingepferchten Überschüssigen des Gazastreifens beobachten.

Man sollte also nicht vergessen, dass die Kämpfe Teil dieses albtraumhaften Universums sind. Es ist schwer vorstellbar, dass sie Kräfteverhältnisse hervorbringen könnten, die fähig wären, „die Segmentierungen zu zerstören“. Bis vor einem Jahr war selbst die einfache Tatsache, dass diese Kämpfe in den besetzten Gebieten weiterhin existierten und die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse unter Zwang setzten (noch einmal, ich spreche hier von den Kämpfen, nicht vom hierarchisierten Widerstand) etwas, das mich persönlich aufrüttelte und nährte. Heutzutage erdrückt das Gewicht der Logik des Massakers alles: Die autonome Handlungsfähigkeit des palästinensischen Proletariats ist vom Bombenhagel bedroht und solange das jüdische Proletariat ein Gefangener des israelischen Staates ist (was sich so schnell nicht ändern wird), gibt es durch das Kräfteverhältnis nichts zu verhandeln. Wir sind tatsächlich in eine andere Phase eingetreten, sie gibt kaum Anlass für Hoffnung.

Ist die Negierung der materiellen Grundlage des palästinensischen „Volkes“ nicht gleichbedeutend mit einer „passiven Unterstützung“ für jenen Staat, welcher es kolonialisiert und niederschlägt?

Ich denke, dass es möglich ist, einen analytischen Rahmen zu entwickeln, innerhalb welchem man sich solidarisch mit den Kämpfen in Palästina fühlt, ohne sich Illusionen hinsichtlich der durch die soziopolitischen, „nationalen“ Apparate getragenen Perspektiven hinzugeben. Das ist es, was Socialisme ou Barbarie zumindest teilweise während des Algerienkrieges gelang: die Entwicklung einer internationalistischen Linie, die gegenüber der FLN eine kritische Position aufrechterhalten konnte, basierend auf einer Klassengrundlage.

In Palästina genau wie sonst überall auf der Welt sind wir in einer Periode, während welcher man nirgends eine „klassenspezifische“ Verkörperung des Proletariats finden wird. Einige hängen immer noch einer Identifikation mit linken Parteien wie der PFLP oder der DFLP (Demokratische Front zur Befreiung Palästinas) oder mit einer hypothetischen, von den Parteien entfernten Zivilgesellschaft an. Ich kann die Vorgehensweise verstehen und ich ging während meiner Reisen aufgrund „kultureller“ Affinität selbst so vor, doch diese Parteien und diese Zivilgesellschaft sind von Klassenwidersprüchen durchdrungen, welche die Führungsschichten als gegenüber der nationalen Herrschaft sekundär darstellen wollen. Nur ist man (im Allgemeinen) solidarisch mit den Diskursen dieser Führungsschichten, ohne dass man sich dessen bewusst wäre.

Ich halte an der Idee fest, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse Vorrang haben vor politischen Ideologien und dass man, sowohl emotional als auch intellektuell, immer versuchen muss, gesellschaftlich gesprochen „von unten auszugehen“, jenseits der politischen Identifikationen, um jene Kämpfe zu verstehen, welche „der“ nationale Kampf behauptet, zu umfassen.

In der Identifikation mit Palästina, der Idee Palästinas, kann man je nach Klassen, Verhältnis zur Politik, aktivistischem, kulturellem Kapital usw. unterschiedliche Logiken erkennen. Das gilt dort, aber auch hier bei uns, in den Ausdrücken der Solidarität. Diese verschiedenen Logiken existieren nicht miteinander, sie skizzieren keine Konvergenz oder Einheit: Sie sind widersprüchlich, sie bekämpfen sich gegenseitig, auf mehr oder weniger bewusste oder stille Art und Weise.

Zur Frage „Was tun?“ habe ich nicht viel zu sagen. Es scheint mir auf jeden Fall, dass man, eher als die verschiedenen in der Bewegung der Solidarität verteidigten politischen Positionen (was man über die Hamas, die Zweistaatenlösung oder sonst etwas denkt), ihre gesellschaftliche Zusammensetzung und die daraus hervorgehenden Kampfpraktiken hinterfragen sollte, um sich daraufhin innerhalb der Bewegung zu positionieren – in der Hoffnung, „den Krieg nach Hause zu holen“ und die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung dort anzugreifen, wo man ist, und so die Massaker im Gazastreifen zu beenden.

In Frankreich ist die Aneignung und die Umrahmung der Solidaritätsdemos durch die Politiker der France insoumise und Konsorten, welche die „palästinensische Sache“ im Rahmen ihrer Interessen instrumentalisieren, oder sogar durch Vereine, die sich als Gesprächspartner für die Macht positionieren, meiner Meinung nach als Niederlage der proletarischen, apolitischen Komponente der Bewegung zu verstehen, diese kam zum Beispiel während dem Krieg 2014 stärker zum Ausdruck.

Interview durchgeführt von zyg im Oktober/November 2024.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle